Kinder vor der schiefen Bahn bewahren
Drogen, Alkohol, Nikotin – Versuchungen, denen Jugendliche im Leben begegnen. Neben den Eltern spielen Schulen und Lehrkräfte eine entscheidende Rolle dabei, sie auf verantwortungsvolle Entscheidungen vorzubereiten.
Der Klassenraum füllt sich, Fünfzehn- und Sechzehnjährige, die das Fach Ethik belegen, suchen sich einen Tisch. Manche wirken gelangweilt, andere tratschen angeregt mit ihren Sitznachbarn. Bis Martin zu sprechen beginnt. Dann wird es schlagartig still, und das für die nächsten 50 Minuten.
„Hello, ich setz mich auch hin, sonst wird’s anstrengend“, sagt er. „Ich erzähl euch heute die Geschichte eines jungen Kerls, der bei seinem ersten Drogenkonsum damals so alt war wie die Jüngeren von euch.“Und Martin erzählt. Er, ein, wie er selbst sagt, „gelangweiltes Dorfkind“, wächst mit seiner Familie im burgenländischen Seewinkel auf. Seine Eltern, die früh geheiratet hatten, bekamen schnell vier Kinder. „Mein Vater war chronisch abwesend, meine Mutter chronisch überfordert.“Mit elf kam er zum ersten Mal betrunken nach Hause, begann regelmäßig mit „anderen Dorfkids“zu trinken, Drogen auszuprobieren. Er brach die Schule ab und kam in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche. Martin wurde erwachsen und landete auf der Straße. Es folgten sechs Jahre Obdachlosigkeit, gepaart mit schwerer Heroin- und Alkoholabhängigkeit. „Elf Jahre meines Lebens habe ich nichts erlebt oder gelernt. Hätte ich geschlafen, wäre es ungefähr dasselbe, nur dass ich heute gesünder wäre.“
Heute ist Martin 40 Jahre alt, vor 17 Jahren hat er den Weg aus der Heroinabhängigkeit geschafft. Seitdem nimmt er das Drogenersatzmedikament Substitol. Nur so könne er Vorträge wie diese halten. Mit den psychischen und körperlichen Konsequenzen seiner Drogenentscheidungen in der Jugend habe er täglich zu kämpfen.
Mit seiner Firma Wiener Nimmerland hat es Martin Klinger sich zur Aufgabe gemacht, Jugendlichen ab der neunten Schulstufe in Schulen in Wien und im Wiener Umland seine Lebensgeschichte als ehemaliger Obdachloser und Drogensüchtiger zu erzählen. An das Schwechater Gymnasium geholt
hat ihn Julia Straub-Eichinger, Gesunde-Schule-Beauftragte, die Biologie, Psychologie und Ethik lehrt.
„Nachdem wir im Unterricht das Thema Sucht durchgenommen haben, finde ich es wichtig, es auch aus einem persönlichen Blickwinkel mit den Schülern zu betrachten. Aber für eine wirksame Suchtprävention braucht es natürlich mehr“, erklärt sie ihre Motivation.
Soziale Kompetenz steigern
Die Adoleszenz ist eine kritische Phase, in der Jugendliche besonders gefährdet sind, Substanzen zu missbrauchen. Wie „Die Presse“berichtete, verzeichnete die Wiener Berufsrettung in den letzten fünf Jahren einen deutlichen Anstieg von Einsätzen wegen Drogen- und
Medikamentenmissbrauch, vor allem bei Minderjährigen. Lisa Brunner, Leiterin des Instituts für Suchtprävention in Wien, betont, dass zwar kein genereller Anstieg des Drogenkonsums bei Jugendlichen feststellbar ist, jedoch ein vermehrter „riskanter“Konsum, der möglicherweise auf den Versuch der Selbstmedikation bei psychischen Belastungen zurückzuführen sei. „Wir wissen, dass Jugendliche durch die multiplen Krisen der vergangenen Jahre psychisch außerordentlich belastet sind.“Eine Art des Umgangs mit psychischen Belastungen kann verändertes Konsumverhalten, auch riskantes, sein. Dazu gehören neben Drogen auch Alkohol und Zigaretten.
Was können Schulen also tun? Ehemalige Suchterkrankte in die Klassen zu holen trage allein wenig dazu bei, Suchtverhalten bei Jugendlichen vorzubeugen, meint Brunner. „Vielmehr müssen die Kinder abgeholt werden: Wie lauten ihre Ängste? Wie können sie gestärkt werden? Je höher die emotionale und soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen ist, desto weniger haben sie mit Sucht und Gewaltthemen zu kämpfen.“
Gemäß einem Grundsatzerlass des Unterrichtsministeriums von 2016 ist Suchtprävention eine bedeutende Aufgabe der Schulen, die als Schutz-, aber auch als Belastungsund Risikofaktor fungieren können, weiß Brunner. Die Qualität des Klassenlebens spielt hierbei eine wichtige Rolle. „Es braucht gute Bindung an die Schule, an die Mitschüler und an die Lehrenden, ein gutes Klassenklima und Abwesenheit von chronischem Stress. Die Schule sollte ein sicherer Ort sein, eine Ressource. Dazu braucht es stabile Beziehungserfahrungen in der Klasse“, sagt Brunner.
Um dies zu gewährleisten, können sich Lehrende im Rahmen diverser Fortbildungen zum Thema Suchtprävention weiterbilden, etwa über die Fachstelle Niederösterreich Suchtprävention. Umfassend ist ein zweisemestriger Hochschullehrgang „Suchtprävention in Schulen“, angeboten von der Fachstelle NÖ. Hier eignen sich Lehrer Wissen im Bereich diverser Suchtformen an, lernen bei konkreten Verdachts- und Anlassfällen korrekt vorzugehen und verbessern ihre Kommunikationskompetenz.
Oder sie absolvieren Fortbildungen wie „Plus“. Dieses „Lebenskompetenzprogramm“soll die psychosoziale Gesundheit von Jugendlichen zwischen zehn und 14 Jahren fördern, Zigaretten- und Alkoholkonsum verringern und das Klassenklima verbessern. Lehrerinnen und Lehrer erhalten Unterrichtsmaterial, Methodenvorschläge und Begleitung durch ein Team der Fachstelle.
(K)ein Ding der Freiwilligkeit
Julia Straub-Eichinger absolviert das vierjährige Programm gemeinsam mit anderen Lehrenden am Gymnasium Schwechat. Ihre Schülerinnen und Schüler bekommen etwa Arbeitsblätter zum Thema Emotionen. Fragen wie „Wie fühlst du dich, wenn du vor der Klasse etwas vortragen sollst?“sollen Kindern den Zugang zur eigenen Gefühlswelt ermöglichen. „Es braucht ein Verständnis für den Zusammenhang zwischen Wohlbefinden, guter Lebensweise und einem harmonischen Miteinander in der Schule. Das ist eine Grundlage für Suchtprävention“, weiß Straub-Eichinger.
Angela Riegler-Mandić, Leiterin der Abteilung Suchtprävention der Fachstelle Niederösterreich, bestätigt: „Die Basis für Suchtprävention kann bereits in der frühen Kindheit gelegt werden. Es geht dabei nicht darum, bestimmte Substanzen oder Verhaltensweisen zu thematisieren, sondern darum, dass Kinder ein gesundes Selbstbild entwickeln, den Umgang mit Gleichaltrigen lernen, das konstruktive Arbeiten an Konflikten oder den Umgang mit den eigenen Gefühlen.“Die Rolle der Lehrenden sei dabei eine begleitende, meint Riegler-Mandić. „Im besten Fall sind sie Vertrauenspersonen für die Kinder und Jugendlichen.“
Doch Lehrende berichten immer wieder, wie Zeitdruck, schwierige organisatorische Rahmenbedingungen oder bürokratische Aufgaben die Lehrtätigkeit beeinflussen. „Wenn wir selbst unter den Bedingungen an Schulen leiden, ist es schwierig, bei den Kindern anzusetzen. Im Berufsleben stehen Lehrer so unter Stress, dass freiwillige Fortbildungen zu selten absolviert werden“, meint Straub-Eichinger.
Und Brunner unterstreicht: „Niemand kann eine gute Lehrkraft sein, wenn man selbst unter dem System leidet. Es braucht eine Entlastung in den Verhältnissen.“