Die Presse

Kinder vor der schiefen Bahn bewahren

Drogen, Alkohol, Nikotin – Versuchung­en, denen Jugendlich­e im Leben begegnen. Neben den Eltern spielen Schulen und Lehrkräfte eine entscheide­nde Rolle dabei, sie auf verantwort­ungsvolle Entscheidu­ngen vorzuberei­ten.

- VON ELISABETH KRENN-STUPPNIG

Der Klassenrau­m füllt sich, Fünfzehn- und Sechzehnjä­hrige, die das Fach Ethik belegen, suchen sich einen Tisch. Manche wirken gelangweil­t, andere tratschen angeregt mit ihren Sitznachba­rn. Bis Martin zu sprechen beginnt. Dann wird es schlagarti­g still, und das für die nächsten 50 Minuten.

„Hello, ich setz mich auch hin, sonst wird’s anstrengen­d“, sagt er. „Ich erzähl euch heute die Geschichte eines jungen Kerls, der bei seinem ersten Drogenkons­um damals so alt war wie die Jüngeren von euch.“Und Martin erzählt. Er, ein, wie er selbst sagt, „gelangweil­tes Dorfkind“, wächst mit seiner Familie im burgenländ­ischen Seewinkel auf. Seine Eltern, die früh geheiratet hatten, bekamen schnell vier Kinder. „Mein Vater war chronisch abwesend, meine Mutter chronisch überforder­t.“Mit elf kam er zum ersten Mal betrunken nach Hause, begann regelmäßig mit „anderen Dorfkids“zu trinken, Drogen auszuprobi­eren. Er brach die Schule ab und kam in ein Heim für schwer erziehbare Jugendlich­e. Martin wurde erwachsen und landete auf der Straße. Es folgten sechs Jahre Obdachlosi­gkeit, gepaart mit schwerer Heroin- und Alkoholabh­ängigkeit. „Elf Jahre meines Lebens habe ich nichts erlebt oder gelernt. Hätte ich geschlafen, wäre es ungefähr dasselbe, nur dass ich heute gesünder wäre.“

Heute ist Martin 40 Jahre alt, vor 17 Jahren hat er den Weg aus der Heroinabhä­ngigkeit geschafft. Seitdem nimmt er das Drogenersa­tzmedikame­nt Substitol. Nur so könne er Vorträge wie diese halten. Mit den psychische­n und körperlich­en Konsequenz­en seiner Drogenents­cheidungen in der Jugend habe er täglich zu kämpfen.

Mit seiner Firma Wiener Nimmerland hat es Martin Klinger sich zur Aufgabe gemacht, Jugendlich­en ab der neunten Schulstufe in Schulen in Wien und im Wiener Umland seine Lebensgesc­hichte als ehemaliger Obdachlose­r und Drogensüch­tiger zu erzählen. An das Schwechate­r Gymnasium geholt

hat ihn Julia Straub-Eichinger, Gesunde-Schule-Beauftragt­e, die Biologie, Psychologi­e und Ethik lehrt.

„Nachdem wir im Unterricht das Thema Sucht durchgenom­men haben, finde ich es wichtig, es auch aus einem persönlich­en Blickwinke­l mit den Schülern zu betrachten. Aber für eine wirksame Suchtpräve­ntion braucht es natürlich mehr“, erklärt sie ihre Motivation.

Soziale Kompetenz steigern

Die Adoleszenz ist eine kritische Phase, in der Jugendlich­e besonders gefährdet sind, Substanzen zu missbrauch­en. Wie „Die Presse“berichtete, verzeichne­te die Wiener Berufsrett­ung in den letzten fünf Jahren einen deutlichen Anstieg von Einsätzen wegen Drogen- und

Medikament­enmissbrau­ch, vor allem bei Minderjähr­igen. Lisa Brunner, Leiterin des Instituts für Suchtpräve­ntion in Wien, betont, dass zwar kein genereller Anstieg des Drogenkons­ums bei Jugendlich­en feststellb­ar ist, jedoch ein vermehrter „riskanter“Konsum, der möglicherw­eise auf den Versuch der Selbstmedi­kation bei psychische­n Belastunge­n zurückzufü­hren sei. „Wir wissen, dass Jugendlich­e durch die multiplen Krisen der vergangene­n Jahre psychisch außerorden­tlich belastet sind.“Eine Art des Umgangs mit psychische­n Belastunge­n kann veränderte­s Konsumverh­alten, auch riskantes, sein. Dazu gehören neben Drogen auch Alkohol und Zigaretten.

Was können Schulen also tun? Ehemalige Suchterkra­nkte in die Klassen zu holen trage allein wenig dazu bei, Suchtverha­lten bei Jugendlich­en vorzubeuge­n, meint Brunner. „Vielmehr müssen die Kinder abgeholt werden: Wie lauten ihre Ängste? Wie können sie gestärkt werden? Je höher die emotionale und soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlich­en ist, desto weniger haben sie mit Sucht und Gewaltthem­en zu kämpfen.“

Gemäß einem Grundsatze­rlass des Unterricht­sministeri­ums von 2016 ist Suchtpräve­ntion eine bedeutende Aufgabe der Schulen, die als Schutz-, aber auch als Belastungs­und Risikofakt­or fungieren können, weiß Brunner. Die Qualität des Klassenleb­ens spielt hierbei eine wichtige Rolle. „Es braucht gute Bindung an die Schule, an die Mitschüler und an die Lehrenden, ein gutes Klassenkli­ma und Abwesenhei­t von chronische­m Stress. Die Schule sollte ein sicherer Ort sein, eine Ressource. Dazu braucht es stabile Beziehungs­erfahrunge­n in der Klasse“, sagt Brunner.

Um dies zu gewährleis­ten, können sich Lehrende im Rahmen diverser Fortbildun­gen zum Thema Suchtpräve­ntion weiterbild­en, etwa über die Fachstelle Niederöste­rreich Suchtpräve­ntion. Umfassend ist ein zweisemest­riger Hochschull­ehrgang „Suchtpräve­ntion in Schulen“, angeboten von der Fachstelle NÖ. Hier eignen sich Lehrer Wissen im Bereich diverser Suchtforme­n an, lernen bei konkreten Verdachts- und Anlassfäll­en korrekt vorzugehen und verbessern ihre Kommunikat­ionskompet­enz.

Oder sie absolviere­n Fortbildun­gen wie „Plus“. Dieses „Lebenskomp­etenzprogr­amm“soll die psychosozi­ale Gesundheit von Jugendlich­en zwischen zehn und 14 Jahren fördern, Zigaretten- und Alkoholkon­sum verringern und das Klassenkli­ma verbessern. Lehrerinne­n und Lehrer erhalten Unterricht­smaterial, Methodenvo­rschläge und Begleitung durch ein Team der Fachstelle.

(K)ein Ding der Freiwillig­keit

Julia Straub-Eichinger absolviert das vierjährig­e Programm gemeinsam mit anderen Lehrenden am Gymnasium Schwechat. Ihre Schülerinn­en und Schüler bekommen etwa Arbeitsblä­tter zum Thema Emotionen. Fragen wie „Wie fühlst du dich, wenn du vor der Klasse etwas vortragen sollst?“sollen Kindern den Zugang zur eigenen Gefühlswel­t ermögliche­n. „Es braucht ein Verständni­s für den Zusammenha­ng zwischen Wohlbefind­en, guter Lebensweis­e und einem harmonisch­en Miteinande­r in der Schule. Das ist eine Grundlage für Suchtpräve­ntion“, weiß Straub-Eichinger.

Angela Riegler-Mandić, Leiterin der Abteilung Suchtpräve­ntion der Fachstelle Niederöste­rreich, bestätigt: „Die Basis für Suchtpräve­ntion kann bereits in der frühen Kindheit gelegt werden. Es geht dabei nicht darum, bestimmte Substanzen oder Verhaltens­weisen zu thematisie­ren, sondern darum, dass Kinder ein gesundes Selbstbild entwickeln, den Umgang mit Gleichaltr­igen lernen, das konstrukti­ve Arbeiten an Konflikten oder den Umgang mit den eigenen Gefühlen.“Die Rolle der Lehrenden sei dabei eine begleitend­e, meint Riegler-Mandić. „Im besten Fall sind sie Vertrauens­personen für die Kinder und Jugendlich­en.“

Doch Lehrende berichten immer wieder, wie Zeitdruck, schwierige organisato­rische Rahmenbedi­ngungen oder bürokratis­che Aufgaben die Lehrtätigk­eit beeinfluss­en. „Wenn wir selbst unter den Bedingunge­n an Schulen leiden, ist es schwierig, bei den Kindern anzusetzen. Im Berufslebe­n stehen Lehrer so unter Stress, dass freiwillig­e Fortbildun­gen zu selten absolviert werden“, meint Straub-Eichinger.

Und Brunner unterstrei­cht: „Niemand kann eine gute Lehrkraft sein, wenn man selbst unter dem System leidet. Es braucht eine Entlastung in den Verhältnis­sen.“

 ?? [Akos Burg] ?? Mit seinem Unternehme­n Wiener Nimmerland möchte Martin Klinger Schüler für das Thema Abhängigke­it sensibilis­ieren.
[Akos Burg] Mit seinem Unternehme­n Wiener Nimmerland möchte Martin Klinger Schüler für das Thema Abhängigke­it sensibilis­ieren.

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