Und wenn keine Zinssenkungen kommen?
In den USA verschiebt sich die Lockerung der Geldpolitik nach hinten – sofern sie überhaupt kommt. Das wirkt sich auf alle Anlageklassen aus und es betrifft auch die EZB, die vorerst an ihrem Kurs festhalten will.
Als sich Jerome Powell im März den Abgeordneten im USKongress stellte, wurde der FedChef gefragt, ob zwei Monate mit überraschend hoher Inflation Grund genug seien, angedachte Zinssenkungen zu verschieben. Eher nicht, gab der einflussreichste Geldpolitiker der Welt zu verstehen. Gleichzeitig signalisierte Powell, dass sich die Lage ändern könnte, wenn die Teuerung drei oder mehr Monate lang wieder unerwartet stark anziehen würde.
Und jetzt haben wir den Salat. Vergangene Woche verlautete das US-Arbeitsministerium, dass die Inflation im März auf 3,5 Prozent gestiegen ist. Das lag über den Erwartungen und nach 3,2 Prozent im Februar und 3,1 Prozent im Jänner, handelt es sich um den dritten Monat in Folge, in dem die Inflationsrate höher ausfiel, als es die Währungshüter erhofft hatten. Nicht nur das: Mit 3,8 Prozent liegt die Kerninflation noch weiter vom Zielwert der Fed von zwei Prozent entfernt. Die Kerninflation berücksichtigt die stark schwankenden Werte für Lebensmittel und Energie nicht, sie gilt als besserer Indikator für den langfristigen Trend.
Die Auswirkungen dieses Inflationsreports aus den USA auf die Kapitalmärkte sind enorm und sie betreffen alle Anlageklassen. Die hohe Teuerung macht es deutlich unwahrscheinlicher, dass die Fed wie geplant ihren Leitzins im Juni senken wird. Höhere Zinsen wirken sich tendenziell negativ auf die Aktienkurse aus, weil einerseits andere Anlageklassen attraktiver werden und andererseits in der Zukunft liegende Gewinne der Firmen heute weniger wert sind. Dass die wichtigsten Indizes nach Bekanntgabe der Inflationszahlen deutlich nachgaben, ist die logische Konsequenz davon.
In der Tat haben sich die Zinserwartungen der Marktteilnehmer seit Beginn des Jahres rasant verschoben. Anfang 2024 erwarteten die Börsianer laut Optionsbörse CME sechs bis sieben Reduktionen des Leitzinses im Ausmaß von je einem Viertelprozentpunkt. Schließlich passten sich die Händler den Prognosen der Fed an, die nach ihrem letzten Treffen im März immer noch drei Zinsschritte geplant hatte. Und nun, nach den Inflationszahlen für März, gehen sie von einer oder maximal zwei Senkungen aus. Das ist der Durchschnitt, wohlgemerkt – immer lauter werden auch die Stimmen, wonach keine Senkung im heurigen Jahr eine Option ist.
„Inflation noch nicht besiegt“
Anfang der Vorwoche sorgte Jamie Dimon, der Chef von JPMorgan, für Aufsehen. In einem Brief an die Aktionäre der größten US-Bank betonte Dimon, dass selbst ein USLeitzins von „acht Prozent oder mehr” möglich sei. Aktuell liegt der Satz bei 5,25 bis 5,5 Prozent und laut Dimon, dem wohl wichtigsten Banker an der Wall
Street, besteht die Gefahr, dass die zu hohe
Teuerung noch lange nicht besiegt sei. „Die riesigen Staatsausgaben, die Billionen, die jedes Jahr für die Green Economy ausgegeben werden, die globale Remilitarisierung und die Restrukturierung des Welthandels: all das löst Inflation aus“, erklärte der JPMorgan-Chef.
Sehr gut ablesen lässt sich die Verschiebung der Zinserwartungen an der Wall Street auch an der Rendite für zehnjährige US-Staatsanleihen. Nach den Inflationszahlen vom Mittwoch stieg sie um 0,2 Prozentpunkte auf 4,5 Prozent – der höchste Anstieg innerhalb eines Tages seit September 2022, als die Fed rasante Zinserhöhungen durchgezogen hatte. Eine höhere Rendite für Treasuries erhöht die Kreditkosten, Investitionen verteuern sich und eine der Folgen könnte eine Abkühlung der US-Konjunktur sein. Die Theorie ist freilich das eine, die Praxis das andere. Auch im Vorjahr erwarteten Experten eine schwächere Wirtschaftsleistung, stattdessen ließen die USA die anderen Industrieländer zurück und die Konjunktur legte um 2,5 Prozent zu.
Wechselkursgewinne
Beachtenswert ist jedenfalls das mögliche Auseinanderdriften der Geldpolitik in der Eurozone und den USA. Zwar beließ die Europäische Zentralbank den Leitzins vorige Woche bei 4,5 Prozent, EZBChefin Christine Lagarde gab aber einmal mehr zu verstehen, dass sie für das Treffen im Juni unabhängig von der Fed eine Senkung ins Auge fasst. Das mag Sinn machen, weil die Teuerung in der Eurozone auf 2,4 Prozent gesunken ist und sich dem EZB-Ziel von zwei Prozent angenähert hat. Tatsächlich hängt Lagarde
aber mehr von den US-Entscheidungen ab, als sie das öffentlich zugeben würde.
So gab der Euro im Vergleich zum Dollar nach den US-Inflationszahlen und der EZB-Sitzung deutlich nach. Zuletzt gab es für einen Euro 1,07 Dollar, zu Jahresbeginn stand der Kurs bei 1,10 Dollar. Für europäische Anleger, die in den USA investiert sind, bedeutet das zusätzlich zu den Kursgewinnen im heurigen Jahr einen Wechselkursgewinn. Bis zu einem gewissen Ausmaß hilft der schwächere Euro auch der strauchelnden Wirtschaft in der Eurozone, weil Exporte günstiger werden, was wiederum die Nachfrage nach europäischen Produkten erhöhen kann.
Lagarde muss aber vorsichtig sein: Senkt sie die Zinsen früher und schneller als die Fed, könnte das zu Kapitalabflüssen in die USA führen, solange dort mit Staatsanleihen vier bis fünf Prozent an Jahresrendite zu verdienen sind. Außerdem kann eine Lockerung der Geldpolitik in der Eurozone wegen der schwachen Konjunktur eher als Schwäche gesehen werden.
Anleger dürfen darauf hoffen, dass die kommenden Monate in den USA eine Annäherung der Inflation an die Marke von zwei Prozent bringen. Sonst droht in abgeänderter Form ein Szenario wie in den 1970ern und 1980ern. Auch damals ging die Teuerung zurück, ehe sie rasant anstieg. Es folgte eine Leitzinserhöhung der Fed auf zwanzig Prozent und der Leitindex S&P 500 fiel bis 1982 auf den Stand von 1954 zurück. Dass es auch heute so kommt, ist unwahrscheinlich. Es lohnt allerdings, sich bewusst zu sein, dass das Blatt an den Börsen sich schnell wenden kann.