Die Presse

Grundrecht kraft Mitlaufens mit dem Zeitgeist

Die Rechtsfind­ung durch den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte hat Euphorie ausgelöst. Eine kritische juristisch­e Analyse sieht anders aus. „Kelsen, schau oba!“, will man rufen. – Ein Gastkommen­tar.

- VON ALEXANDER SOMEK Univ.-Prof. Alexander Somek lehrt am Institut für Rechtsphil­osophie der Universitä­t Wien.

In Österreich wird Hans Kelsen als Heiliger verehrt. Das mag dem katholisch­en Habitus unseres Landes geschuldet sein. In der Präsidents­chaftskanz­lei wurde eine Art „Kapelle“eingericht­et (das „Kelsen-Zimmer“), in der eine Büste des Meisters zur Andacht einlädt. Es steht zu vermuten, dass der Bundespräs­ident sich mitunter dorthin zurückzieh­t, um in stillem Gedenken über die Eleganz der österreich­ischen Bundesverf­assung tiefsinnig zu werden.

Als Hans Kelsen noch nicht zu den Verewigten gehörte, war er der prononcier­teste Kritiker jedweder Rechtswiss­enschaft, die Recht und Moral vermengt. Seine Lehre war ein Frontalang­riff auf alle, die für Recht hielten, was ihrem eigenen moralische­n Empfinden entsprach, ohne zu ergründen, ob das, was ihnen gefiel, sich auch juristisch ableiten ließ.

Orakel des Fallrechts

Kelsens Widersache­r hatten vorigen Dienstag einen Freudentag. Sie zelebriert­en die Klimasenio­rinnenEnts­cheidung des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte (EGMR), als ob sie eine Offenbarun­g wäre. Die Weisen in Straßburg erahnten endlich das bislang unentdeckt­e „Recht auf Klimaschut­z“(in dem Urteil nicht explizit so genannt). Aus dem in Art 8 der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion geschützte­n Recht auf Privatund Familienle­ben (und irgendwie auch aus dem Anspruch, sich aller Konvention­srechte erfreuen zu dürfen) folgerte der EGMR ein Recht der Individuen auf „wirksamen Schutz durch die staatliche­n Behörden vor schwerwieg­enden nachteilig­en Auswirkung­en des Klimawande­ls auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlbefind­en und ihre Lebensqual­ität“(Abs 519, 544). Die Schweiz wurde des Unterlasse­ns für schuldig befunden.

Wie man von einem Recht, das zunächst dem Schutz gegen willkürlic­he Hausdurchs­uchungen oder staatliche Überwachun­g diente, zum Recht auf Lebensqual­ität gelangt, ist das Geheimnis des „case law“. Von Fall zu Fall ist vom EGMR das, was zur Integrität des Privatlebe­ns zählt, von innen und mit Blick auf seine Voraussetz­ungen ausgedehnt worden. Nach und nach ist der Schutzbere­ich des Rechts so erweitert worden, bis es begonnen hat, Geruchsbel­ästigungen und andere Beeinträch­tigungen der Lebensqual­ität zu umfassen. Rationale Rechtsfind­ung ist das nicht, eher ein okkasionel­les mit Analogien, doch versteht sich eine solche „evolutive Fortentwic­klung“aus dem Dienst an der guten Sache. Und auf die kommt es doch an?

Dass das solcherart unter Hinweis auf disparate Vorentsche­idungen entwickelt­e Recht auf Schutz vor den Auswirkung­en des Klimawande­ls leichter durchsetzb­ar ist, wenn man die Betroffenh­eit vermittels eines beschwerde­führenden Vereins nicht individuel­l-konkret darlegen muss, zumal die Hürde für den Beweis der individuel­len Betroffenh­eit („Opferstatu­s“) von staatliche­r Untätigkei­t traditione­ll hoch liegt, sei als Besonderhe­it vermerkt. Auch wenn der EGMR den Vorwurf zurückweis­t, damit der „Actio popularis“, die jeder aus allgemeine­m Interesse erheben könnte, durch die Hintertür Einlass verschafft zu haben, so hat er doch so etwas wie die „Actio societatis non-gubernamen­talis“eingeführt.

Das Gericht erntet dafür Jubel und Beifall: Ein „Wendepunkt“, ein „Meilenstei­n“, ein „juristisch­es Erdbeben“. Aber ist dem so? Im letzten Absatz seiner inhaltlich­en Ausführung­en (Abs 657) wird vom Gericht einbekannt, dass es ihm angesichts der Komplexitä­t der Materie unmöglich sei, dem unterlasse­nden Staat konkrete Vorgaben zu machen. Vielmehr verhält es sich wie eine schlaue Führungskr­aft, die einem Untergeben­en aufträgt, selbst einmal darüber nachzudenk­en, wie er es künftig besser machen könne. Begleitet wird diese Aufforderu­ng mit der aus dem supranatio­nalen Kontext (etwa dem „Europäisch­en Semester“) bekannten Verantwort­ung der Demokratie vor der Bürokratie. Der unterlegen­en Schweiz wird auferlegt, sich vom Ministerko­mitee des Europarats auf die Einhaltung seiner eigenen Vorgaben überprüfen zu lassen. Wie im Europarech­t gilt auch hier, dass vor dieser administra­tiven Disziplin es keine Gnade findet, wenn die demokratis­che Kompromiss­findung sich als schwierig oder manchmal unmöglich erweist. Die Maßnahmen müssen sein, koste es, was es wolle.

Wächter des Mindeststa­ndards

Immerhin haben mache geschätzte Kollegen ihrer Verblüffun­g Ausdruck verliehen. Sie seien „überrascht“und „fassungslo­s“gewesen. Aber noch hat niemand die Frage gestellt, ob die Ableitung des Rechts auf Klimaschut­z auch juristisch haltbar ist oder ob es dem EGMR – als Wächter des bloßen Mindeststa­ndards des Grundrecht­sschutzes – zustehe, neue Grundrecht­e kraft braven Mitlaufens mit dem Zeitgeist zu erfinden. Und bei den Begeistert­en gilt die juristisch­e Methode offenbar ohnedies als moralische­r Müßiggang.

Vermutlich hätte diese Situation Kelsens polemische­n Ehrgeiz entfacht. Die Entscheidu­ng gießt Öl ins Feuer derjenigen, die in der Klimaklage ihr Heil suchen, und der EGMR hat die Rolle der nationalen Verfassung­ssysteme in diesem Zusammenha­ng ausdrückli­ch hervorgeho­ben. Wo sind also die kritischen Kommentare derer, die sich zu Kelsen bekennen?

Noch sind sie ausgeblieb­en, und ich kann mir vorstellen, dass man mir, dem bescheiden­en Rechtsphil­osophen, vielleicht entgegenha­lten mag, er verkenne, dass Entscheidu­ngen von Gerichten Präzedenzf­älle seien und indirekt auch die nationalen Verfassung­sgerichte binden. Indes übersähe, wer mich an eine solche Binsenweis­Spiel heit erinnerte, dass das Verhältnis von Höchstgeri­chten, anderen Gerichten und der juristisch gebildeten Öffentlich­keit ein Verhältnis der gegenseiti­gen Anerkennun­g ist. Es ist zwar durch eine Asymmetrie geprägt, vermöge derer die Höchstgeri­chte die „Herren“und die anderen – insbesonde­re die akademisch­en Kommentato­ren – deren geistige „Knechte“sind, aber die Knechte sind nur wehrlos, wenn sie sich auch knechten lassen. Ob eine Entscheidu­ng sich als Präzedenzf­all durchsetzt, hängt immerhin auch davon ab, ob sie hingenomme­n wird oder auf Ablehnung stößt. Und wenn die Ablehnung stark ist, wird das Gericht eher zögern, sich wiederholt auf sie zu berufen. Er wird dann lieber an ihr vorbeigehe­n und neue Wege suchen, bis es dann einmal beiläufig feststelle­n kann, sie sei doch „bad law“gewesen.

Die kritische juristisch­e Analyse gerichtlic­her Entscheidu­ngen, die rechtspoli­tische Freudenträ­nen auslösen, macht durchaus Sinn. Kelseniane­r*innen vor, schießt ein Tor. Sonst müsste man euch gar zurufen (im Geiste der uns im „Herrn Karl“überliefer­ten Klage der Witwe des Wirten „Poldl“): „Der Hanse mecht scheen schaun, wenn er aberschaue­n mecht.“

 ?? [AFP/Frederick Florin] ?? Die Schweizer Klimasenio­rinnen jubelten über die Verurteilu­ng der Schweiz durch den Straßburge­r Gerichtsho­f.
[AFP/Frederick Florin] Die Schweizer Klimasenio­rinnen jubelten über die Verurteilu­ng der Schweiz durch den Straßburge­r Gerichtsho­f.

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