Grundrecht kraft Mitlaufens mit dem Zeitgeist
Die Rechtsfindung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat Euphorie ausgelöst. Eine kritische juristische Analyse sieht anders aus. „Kelsen, schau oba!“, will man rufen. – Ein Gastkommentar.
In Österreich wird Hans Kelsen als Heiliger verehrt. Das mag dem katholischen Habitus unseres Landes geschuldet sein. In der Präsidentschaftskanzlei wurde eine Art „Kapelle“eingerichtet (das „Kelsen-Zimmer“), in der eine Büste des Meisters zur Andacht einlädt. Es steht zu vermuten, dass der Bundespräsident sich mitunter dorthin zurückzieht, um in stillem Gedenken über die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung tiefsinnig zu werden.
Als Hans Kelsen noch nicht zu den Verewigten gehörte, war er der prononcierteste Kritiker jedweder Rechtswissenschaft, die Recht und Moral vermengt. Seine Lehre war ein Frontalangriff auf alle, die für Recht hielten, was ihrem eigenen moralischen Empfinden entsprach, ohne zu ergründen, ob das, was ihnen gefiel, sich auch juristisch ableiten ließ.
Orakel des Fallrechts
Kelsens Widersacher hatten vorigen Dienstag einen Freudentag. Sie zelebrierten die KlimaseniorinnenEntscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), als ob sie eine Offenbarung wäre. Die Weisen in Straßburg erahnten endlich das bislang unentdeckte „Recht auf Klimaschutz“(in dem Urteil nicht explizit so genannt). Aus dem in Art 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützten Recht auf Privatund Familienleben (und irgendwie auch aus dem Anspruch, sich aller Konventionsrechte erfreuen zu dürfen) folgerte der EGMR ein Recht der Individuen auf „wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität“(Abs 519, 544). Die Schweiz wurde des Unterlassens für schuldig befunden.
Wie man von einem Recht, das zunächst dem Schutz gegen willkürliche Hausdurchsuchungen oder staatliche Überwachung diente, zum Recht auf Lebensqualität gelangt, ist das Geheimnis des „case law“. Von Fall zu Fall ist vom EGMR das, was zur Integrität des Privatlebens zählt, von innen und mit Blick auf seine Voraussetzungen ausgedehnt worden. Nach und nach ist der Schutzbereich des Rechts so erweitert worden, bis es begonnen hat, Geruchsbelästigungen und andere Beeinträchtigungen der Lebensqualität zu umfassen. Rationale Rechtsfindung ist das nicht, eher ein okkasionelles mit Analogien, doch versteht sich eine solche „evolutive Fortentwicklung“aus dem Dienst an der guten Sache. Und auf die kommt es doch an?
Dass das solcherart unter Hinweis auf disparate Vorentscheidungen entwickelte Recht auf Schutz vor den Auswirkungen des Klimawandels leichter durchsetzbar ist, wenn man die Betroffenheit vermittels eines beschwerdeführenden Vereins nicht individuell-konkret darlegen muss, zumal die Hürde für den Beweis der individuellen Betroffenheit („Opferstatus“) von staatlicher Untätigkeit traditionell hoch liegt, sei als Besonderheit vermerkt. Auch wenn der EGMR den Vorwurf zurückweist, damit der „Actio popularis“, die jeder aus allgemeinem Interesse erheben könnte, durch die Hintertür Einlass verschafft zu haben, so hat er doch so etwas wie die „Actio societatis non-gubernamentalis“eingeführt.
Das Gericht erntet dafür Jubel und Beifall: Ein „Wendepunkt“, ein „Meilenstein“, ein „juristisches Erdbeben“. Aber ist dem so? Im letzten Absatz seiner inhaltlichen Ausführungen (Abs 657) wird vom Gericht einbekannt, dass es ihm angesichts der Komplexität der Materie unmöglich sei, dem unterlassenden Staat konkrete Vorgaben zu machen. Vielmehr verhält es sich wie eine schlaue Führungskraft, die einem Untergebenen aufträgt, selbst einmal darüber nachzudenken, wie er es künftig besser machen könne. Begleitet wird diese Aufforderung mit der aus dem supranationalen Kontext (etwa dem „Europäischen Semester“) bekannten Verantwortung der Demokratie vor der Bürokratie. Der unterlegenen Schweiz wird auferlegt, sich vom Ministerkomitee des Europarats auf die Einhaltung seiner eigenen Vorgaben überprüfen zu lassen. Wie im Europarecht gilt auch hier, dass vor dieser administrativen Disziplin es keine Gnade findet, wenn die demokratische Kompromissfindung sich als schwierig oder manchmal unmöglich erweist. Die Maßnahmen müssen sein, koste es, was es wolle.
Wächter des Mindeststandards
Immerhin haben mache geschätzte Kollegen ihrer Verblüffung Ausdruck verliehen. Sie seien „überrascht“und „fassungslos“gewesen. Aber noch hat niemand die Frage gestellt, ob die Ableitung des Rechts auf Klimaschutz auch juristisch haltbar ist oder ob es dem EGMR – als Wächter des bloßen Mindeststandards des Grundrechtsschutzes – zustehe, neue Grundrechte kraft braven Mitlaufens mit dem Zeitgeist zu erfinden. Und bei den Begeisterten gilt die juristische Methode offenbar ohnedies als moralischer Müßiggang.
Vermutlich hätte diese Situation Kelsens polemischen Ehrgeiz entfacht. Die Entscheidung gießt Öl ins Feuer derjenigen, die in der Klimaklage ihr Heil suchen, und der EGMR hat die Rolle der nationalen Verfassungssysteme in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervorgehoben. Wo sind also die kritischen Kommentare derer, die sich zu Kelsen bekennen?
Noch sind sie ausgeblieben, und ich kann mir vorstellen, dass man mir, dem bescheidenen Rechtsphilosophen, vielleicht entgegenhalten mag, er verkenne, dass Entscheidungen von Gerichten Präzedenzfälle seien und indirekt auch die nationalen Verfassungsgerichte binden. Indes übersähe, wer mich an eine solche BinsenweisSpiel heit erinnerte, dass das Verhältnis von Höchstgerichten, anderen Gerichten und der juristisch gebildeten Öffentlichkeit ein Verhältnis der gegenseitigen Anerkennung ist. Es ist zwar durch eine Asymmetrie geprägt, vermöge derer die Höchstgerichte die „Herren“und die anderen – insbesondere die akademischen Kommentatoren – deren geistige „Knechte“sind, aber die Knechte sind nur wehrlos, wenn sie sich auch knechten lassen. Ob eine Entscheidung sich als Präzedenzfall durchsetzt, hängt immerhin auch davon ab, ob sie hingenommen wird oder auf Ablehnung stößt. Und wenn die Ablehnung stark ist, wird das Gericht eher zögern, sich wiederholt auf sie zu berufen. Er wird dann lieber an ihr vorbeigehen und neue Wege suchen, bis es dann einmal beiläufig feststellen kann, sie sei doch „bad law“gewesen.
Die kritische juristische Analyse gerichtlicher Entscheidungen, die rechtspolitische Freudentränen auslösen, macht durchaus Sinn. Kelsenianer*innen vor, schießt ein Tor. Sonst müsste man euch gar zurufen (im Geiste der uns im „Herrn Karl“überlieferten Klage der Witwe des Wirten „Poldl“): „Der Hanse mecht scheen schaun, wenn er aberschauen mecht.“