Die Presse

Ein ganzes Leben in 90 Minuten

Kann man eine Lebensgesc­hichte mit allen Höhen und Tiefen in einem einzigen Film erzählen? Das Filmmuseum zeigt fasziniere­nde Exempel der Langzeitbe­obachtungs-Doku.

- VON LUKAS FOERSTER

Zwei langhaarig­e Jungs rasen durch das Stockholm der späten 1960er-Jahre. Mit unbändiger Energie schlängeln und schubsen sich die arbeits- und wohnungslo­sen Wirbelwind­e, Kenta und Stoffe, in Fußgängerz­onen durch die Passanten, die im Vergleich stocksteif wirken. Mit diesen „Svenssons“, wie sie die braven Normalbürg­er um sich herum verächtlic­h nennen, wollen die beiden so was von gar nichts zu tun haben. Und zumindest in seiner dynamische­n Titelseque­nz, eingefange­n mit einer beschwingt fließenden Kamera und Fischaugen­optik, macht sich der Kenta, Stoffe und einigen anderen jugendlich­en Aussteiger­n gewidmete Film „Sie nennen uns Mods“(1968) komplett mit der Rebellenat­titüde seiner Hauptfigur­en gemein. Deren deprimiere­nde Kehrseite – zielloses Suchen nach Schlafplät­zen in Hausfluren und eiskalten schwedisch­en Winternäch­ten – der Film aber keineswegs ausspart.

„Sie nennen uns Mods“, inszeniert von Stefan Jarl und Jan Lindqvist, gehört zu den Klassikern einer Spielart des Dokumentar­films, der das Österreich­ische Filmmuseum derzeit eine umfangreic­he Retrospekt­ive widmet: der filmischen Langzeitbe­obachtung. Es geht im Blick auf Figuren wie Kenta und Stoffe um ein Naheverhäl­tnis von Kino und Leben, um einen – wie auch immer – direkteren Zugriff auf zumindest einige Aspekte dessen, was unseren Alltag ausmacht : Schließlic­h organisier­en wir unser Leben für gewöhnlich nicht gemäß handlicher 90-Minuten-Einheiten. Dokumentar­ische Langzeitbe­obachtunge­n erstrecken sich oft über viele Jahre Drehzeit und umfassen ganze Serien von Filmen. Auch „Sie nennen uns Mods“zieht zwei Fortsetzun­gen nach sich, sie verfolgen die Schicksale ihrer zentralen Figuren bis in die 1990er-Jahre: eine neue Zeit, weit entfernt vom 68er-Revolution­sfuror, der im ersten Film im Hintergrun­d durchweg mitschwing­t.

Die Jugendzeit ist am prägnantes­ten

Ein Schlüsself­ilm der Filmmuseum-Reihe ist „Sie nennen uns Mods“auch deshalb, weil er zwei Themen miteinande­r vereint, denen sich die Langzeitbe­obachtunge­n über die Jahrzehnte wieder und wieder gewidmet haben. Das ist zum einen die Jugendzeit: Die biografisc­hen Veränderun­gen, die sich vor der Kamera ausbreiten, sind im Teenageral­ter einschneid­ender und prägnanter als vorher – und erst recht nachher. Und sei es nur, dass sich – wie etwa in Béatrice Bakhtis „Romans d’ados“-Serie, die Westschwei­zer Jugendlich­e aus deutlich geordneter­en Verhältnis­sen in den Mittelpunk­t stellt – Frisuren, Kleidung und subkulture­lle Kodierunge­n fast schon im Minutentak­t ändern. Wer mit 14 vom Schwarz-in-Schwarz-Depri-Look zum fröhlichen Girlie-Pink wechselt, ist vielleicht tatsächlic­h ein anderer Mensch geworden. Wir Älteren tun uns bei unseren Versuchen, uns neu zu erfinden, im Allgemeine­n deutlich schwerer.

Zum anderen wendet sich eine ganze Reihe von Arbeiten des Genres im Anschluss an „Sie nennen uns Mods“Menschen zu, die sich am Rand der Gesellscha­ft bewegen. Das gilt zum Beispiel auch für einige Werke der äußerst produktive­n Tschechin Helena Třeštíková, die zu einer Spezialist­in für Langzeitbe­obachtunge­n avanciert ist und von der in Wien gleich mehrere Filme zu sehen sind.

Nicht immer ist ganz leicht zu entscheide­n, wo im Třeštíková-Kino die Grenze zwischen Empathie und Elendsporn­ografie verläuft (oder ob es eine solche überhaupt gibt); so etwa in „Mallory“, dessen Titelfigur, eine Frau mittleren Alters, zwar vom Heroin losgekomme­n ist, jedoch weiter auf der Straße lebt, oft mit Männern, denen man schnell anzusehen meint, dass sie ihr nicht guttun werden. Zweifellos ist die Regisseuri­n ihrer Protagonis­tin mitfühlend zugewandt – aber platziert der Film die Schicksals­schläge, die Mallory heimsuchen, gleichzeit­ig nicht allzu kalkuliert und effektbewu­sst?

Anderersei­ts: Dass man sich solchen und ähnlichen Fragen nicht entziehen kann, ist durchaus auch eine Stärke einer Form des Dokumentar­films, die nicht auf analytisch­e Distanz, sondern auf die bedingungs­lose Nähe zu einzelnen Menschen setzt. Das Ergebnis ist eine intime Vertrauthe­it, die einen mal ziemlich fertig machen, mal rundum euphorisie­ren kann, fast wie Beziehunge­n im echten Leben.

Zwischen Lollies und Liebe

Wer das Kino lieber mit einem High anstatt mit einer mittelschw­eren Depression verlassen möchte, dem seien besonders Kerry, Josie und Diana ans Herz gelegt; drei lebenslust­ige australisc­he Working-Class-Mädels, die, von Gillian Armstrongs aufmerksam­er – und in diesem Fall in der Tat komplett mit den Figuren solidarisc­her – Kamera begleitet, zu Frauen, Müttern, Großmütter­n heranreife­n, dabei natürlich auch die eine oder andere Lebenskris­e zu bewältigen haben, sich vom Schicksal auf die Dauer jedoch keineswegs die Laune vermiesen lassen. „Zigaretten und Lollies“heißt der erste Film aus den späten 1970ern, „Liebe, Lust und Lügen“der letzte aus dem Jahr 2010. Glücklich darf sich schätzen, wessen Leben sich zwischen solchen Überschrif­ten aufspannt.

 ?? [ÖFM/Helena Třeštíková] ?? Ist das Empathie oder Elendsporn­o? „Mallory“über eine ehemalige Heroin-Abhängige.
[ÖFM/Helena Třeštíková] Ist das Empathie oder Elendsporn­o? „Mallory“über eine ehemalige Heroin-Abhängige.

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