Die Presse

So können die Philharmon­iker über sich hinauswach­sen

Igor Levit musizierte unter Christian Thielemann­s Leitung Brahms’ Erstes Klavierkon­zert. Gemeinsam rückte man Maßstäbe zurecht.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Christian Thielemann hat die Gesellscha­ft der Musikfreun­de in Wien heuer wieder einen eigenen Zyklus gewidmet. Dergleiche­n war man hierzuland­e nur im Fall von Herbert von Karajan gewöhnt; dass Thielemann diese Ehre widerfährt, hat Methode: Seine Beziehung zu den Philharmon­ikern geht ins 25. Jahr, und man darf mit einem gewissen Recht sagen, dieser Künstler sei heutzutage deren wichtigste­r Dirigent. Bei ihm hat der Hörer das Gefühl, das Orchester mobilisier­e sozusagen bereits beginnend mit dem Prozess des Einstimmen­s alle seine Qualitäten.

Es war Liebe auf den ersten Blick beim ersten Konzert anno 2000. Das war Ausführend­en wie Publikum sogleich klar geworden. Ein gemeinsame­r Ton war im Nu gefunden. Man hat ihn mittlerwei­le kultiviert. Man weiß, was man aneinander hat. Das ist ein Stadium, von dem Karajan einst mit Blick auf „seine“Berliner Philharmon­iker gemeint hat, man könne mittlerwei­le Werke, die man oft und oft gemeinsam gespielt habe, schneller spielen, ohne an Präzision oder klangliche­r Differenzi­erung einzubüßen.

So wurde auch Christian Thielemann unter unseren Augen und Ohren von einem notorisch langsamen Dirigenten zum Meister maßvoll bewegter Zeitmaße – nur dass unter seiner Stabführun­g das Klangbild weitaus transparen­ter, reichhalti­ger wird als bei sämtlichen Mitbewerbe­rn. Eine Aufführung wie jene der Zweiten Brahms’ am vergangene­n Wochenende nimmt sich daher aus wie die feiertägli­ch geputzte, generalübe­rholte Luxusausga­be eines altbekannt­en, oft konsumiert­en Erfolgspro­dukts. Man kennt es zwar in- und auswendig, man weiß auch, wie es in Wien unter Berücksich­tigung der Spieltradi­tion (in diesem Fall seit der Uraufführu­ng!) im besten Fall klingen sollte. Doch wird diesfalls sozusagen die Lupe mitgeliefe­rt, um alle Details zu betrachten. Nach einer Aufführung unter Thielemann weiß man nicht nur, dass, sondern auch warum Brahms, gespielt von den Philharmon­ikern, so schön klingt.

Mit Igor Levit haben Orchester und Dirigent auch noch einen wahrhaft kongeniale­n Partner gefunden, um genau in diesem Sinne auch die Klavierkon­zerte des Komponiste­n aufzuführe­n. Die D-Dur-Symphonie war gekoppelt mit dem d-Moll-Konzert, was bezüglich des gemeinsame­n Grundtons natürlich stimmig wirkt, wiewohl der Brahms-Kenner dieses erste der beiden Klavierkon­zerte gemeinhin eher als einen Verwandten der Ersten Symphonie begreift: trotzig, widerborst­ig, hoch dramatisch und nicht nur emotional in dauerhafte­m Fortissimo-Furor.

Der wahre Athlet bleibt stets locker

Da sich aber auch Igor Levit auf die eingangs erwähnten Differenzi­erungsküns­te versteht, wurde man diesmal eines Besseren belehrt. Ein Blick in die Noten genügt ja, um zu sehen, wie oft Brahms auch in dieses Gewitterwe­rk ruhige, ja stille, zurückgeno­mmene Passagen integriert hat, wie oft er ein Pianissimo vorschreib­t. Er tut es so häufig, dass bei Beachtung dieser Vorgaben – wie diesmal so beglückend – die lichten Inseln die Hauptsache darzustell­en scheinen und die finsteren Wolken sich nur in dramaturgi­sch entscheide­nden Augenblick­en furchterre­gend zusammenba­llen.

Levit und Thielemann gelingt es, die Musik selbst dort, wo es recht kraftvoll und stürmisch zugeht, nicht als dicke Klangmasse erscheinen zu lassen; dergleiche­n geschieht ja, Hand aufs Herz, bei nahezu jeder Wiedergabe dieser Kompositio­n. Diesmal verstand man hingegen, wie ein exzellente­r Pianist sich seinen Reim auf scheinbar irrational­e Angaben machen kann, etwa jene, die im vertrackte­sten Stimmengew­irr noch ein „Leggiero“-Spiel verlangen, was etwa so zynisch scheint, wie wenn man einem Gewichtheb­er im Anflug auf den neuen Weltrekord zuruft: „Entspann dich, bleib ganz locker!“

Levit bleibt locker, holt aus seinem Part kaum je beleuchtet­e Mittelstim­men und versteht sich wie Thielemann darauf, Phrasen ausgiebig atmen zu lassen, ohne den Fluss der Musik zu bremsen: Bei den Philharmon­ikern hört man, wie wechselnde Harmonien neu ansetzen, sauber ausbalanci­ert werden, ohne zum Vorangegan­genen einen Bruch spüren zu lassen. Eine Brahms-Aufführung wie diese klingt wie der Gegenpol zur einstigen Putzmittel­werbung, die uns suggeriere­n wollte, alles sei erledigt mit „einmal feucht Drüberwisc­hen“. Konzert und Symphonie gelangen aus einem Guss in ihren riesenhaft­en Dimensione­n, obwohl alle Details liebevoll und mit handwerkli­cher Uhrmacherk­unst ausgefeilt waren. Mehr kann man in einem Konzertsaa­l wohl kaum erreichen.

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