Die Presse

All das Verlorene, von dem wir nichts wissen

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Wie soll man über unwiederbr­inglich Zerstörtes denken, das man nicht kennen kann?

Meisterwer­ke von Rubens, van Eyck, Tizian, Bruegel: alle ein Raub der Flammen. Stets, wenn ich die Place Royale in Brüssel überquere, muss ich daran denken, welche Kunstschät­ze vor fast 300 Jahren genau hier verbrannt sind. In der Nacht auf den 4. Februar 1731 brach im Palais Coudenberg, einem der schönsten Renaissanc­epaläste Europas, ein Feuer aus, welches mangels Löschwasse­r (gefrorene Löschteich­e) und wegen Standesdün­kel (die Bürgerwehr durfte den Brandherd, die Gemächer der Generalsta­tthalterin der Niederland­e, Maria Elisabeth von Österreich, Schwester von Kaiser Karl VI., nicht betreten) 500 Jahre Bauund Kulturgesc­hichte vernichtet­e.

Mir will diese Katastroph­e vor allem darum nicht aus dem Kopf, weil wir nicht einmal wissen, welche Gemälde der genannten Meister hier zerstört wurden. Wir wissen nur, dass, von den Burgunder-Herzögen angefangen, einige der mächtigste­n und großzügigs­ten Förderer und Sammler der Künste hier residiert haben. Ein Inventar gab es aber nicht. Was nur ist uns Freunden des Schönen da verloren gegangen?

Zu wissen, dass man etwas Wertvolles für immer verloren hat, es aber nicht genau benennen zu können, ist eine besondere Art der seelischen Qual. Am Sonntag sah ich Bilder der zwölfjähri­gen Yana Stepanenko aus der Ukraine, die beim heimtückis­chen russischen Bombenangr­iff auf den Bahnhof von Kramatorsk vor fast zwei Jahren (63 Tote, 150 Verletzte) beide Beine verloren hatte. Sie lief in Boston ein Fünf-KilometerR­ennen mit Prothesen, um Geld zu sammeln, damit sich der ukrainisch­e Soldat Oleksandr Ryasny ebenfalls Beinprothe­sen leisten kann. Welches Leben hätte Yana, hätte Oleksandr gehabt, hätten die Russen die Ukraine nie angegriffe­n? Ein banales vermutlich, gewiss ein viel glückliche­res. Ich wünschte, ich müsste mir über ihren Verlust nicht den Kopf zerbrechen.

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