Flanderns vergessene Helden
Der belgische Historiker Dany Neudt popularisiert die lang unterdrückte Debatte über Widerstand und Kollaboration der Flamen im Zweiten Weltkrieg.
Theodoor Cornips aus dem Örtchen Eisden in der belgischen Provinz Limburg war Steinmetz, er hatte eine Frau und fünf Kinder. Nach dem Überfall Nazideutschlands auf Belgien im Sommer 1940 schloss er sich der führenden Widerstandsgruppe „Onafhankelijkheidsfront“(„Unabhängigkeitsfront“) an. Am 17. Juli 1943 wurde er verhaftet, zuerst in Hasselt, dann in der berüchtigten Festung Breendonk inhaftiert. Dort ermordeten ihn die deutschen Besatzer am 11. April 1944.
So jemand ist ein Held. Doch Theodoor Cornips ist kaum einem der mehr als 6,5 Millionen Flamen bekannt. „Wieso kennen wir diese Geschichten nicht? Wieso gibt es keine Bücher darüber, keine Filme?“, fragt Dany Neudt im Gespräch mit der „Presse“. Neudt ist Historiker, er kommt aus Gent, in einem früheren Leben war er dort in der Kommunalpolitik und später als Vizechef der flämischen Grünen tätig. Doch mit Parteipolitik hat er heute nicht mehr viel am Hut. Ihm geht es um etwas anderes: „Für uns zählt die Erinnerung. Wir wollen ehren, was diese Menschen vor 80 Jahren taten, wie sie litten, und wie ihre Nachfahren heute oft noch leiden.“
Giftige Saat der „Flamenpolitik“
Das Königreich Belgien war vor dem deutschen Überfall 1940 ebenso neutral wie vor jenem 1914, geholfen hat das beide Male nicht. Im Ersten Weltkrieg versuchten die Deutschen mit ihrer „Flamenpolitik“, das Gefühl der politischen, ökonomischen und kulturellen Diskriminierung der niederländischsprachigen Bewohner Flanderns durch den frankophonen belgischen Zentralstaat propagandistisch auszunutzen, um den Widerstandsgeist zu schwächen.
Diese giftige Saat ging nach dem zweiten deutschen Überfall auf Belgien auf. Die Nazis intensivierten die „Flamenpolitik“, reicherten sie um ihre rassentheoretischen Hirngespinste und vor allem den Abwehrkampf gegen den gottlosen Bolschewismus an. Wer aufseiten der Deutschen war, verteidigte Gott, flämische Kultur und Vaterland, die Widerstandskämpfer waren in dieser sinistren Logik Verräter an der flämischen Sache.
Das blieb auch nach der Befreiung Belgiens im Herbst 1944 vielerorts so. Weil es mehr flämische als französischsprachige Kollaborateure gab, wurden auch mehr von ihnen verurteilt und hingerichtet. „Bei uns in Flandern glauben acht bis zehn Prozent der Leute, Wähler des Vlaams Belang, dass die flämische Kollaboration nur fehlgeleiteter Idealismus war. Ein Teil der Bevölkerung verweigert sich also, die Wahrheit klar zu sehen, dass die Flamen sich damals völlig kompromittiert haben“, sagte der Schriftsteller Stefan Hertmans vor zwei Jahren zur „Presse“.
„In Flandern haben wir ein sehr kompliziertes Verhältnis zu Widerstand und Kollaboration. Erstmals nach 80 Jahren können wir offen darüber reden“, erklärt Neudt, und das führt direkt zu seinem Projekt namens „Helden van het verzet“(„Helden des Widerstandes“). Während der Pandemie begann er, sich damit zu beschäftigen. Im August 2022 verfasste er den ersten Tweet dazu: über die Schriftstellerin Suzanne Spaak, Bekannte von René Magritte und Schwägerin des europäischen Gründervaters Paul-Henri Spaak, die im Widerstand Hunderten jüdischen Kindern das Leben rettete. Am 12. August 1944 wurde sie in Paris erschossen. „Vergesst sie nicht!“, appellierte Neudt in seinem Tweet.
Sein Wunsch fiel auf fruchtbaren Boden. „Der Tweet ging viral, ich war fast schockiert. Ich hatte keine Strategie“, sagt er. Seither hat sich „Helden van het verzet“professionalisiert. Es gibt eine Website, auf der man die Schicksale Hunderter flämischer (und frankophoner) Widerstandskämpfer nachlesen kann. Einige der besonders abenteuerlichen Geschichten verlegt er als „Widerstandsnovellen“– vor allem für ein junges Zielpublikum: „Meine Tochter ist 19. Sie hat in der Schule nie gelernt, dass gut 150.000 Belgier Widerstand geleistet haben, dass 40.000 verhaftet und 15.000 ermordet wurden“, sagt Neudt. Seit Februar ist er an der Vrije Universiteit Brussel an einem eigens eingerichteten Lehrstuhl für Gedenkforschung („Spuren des Widerstands“) tätig.
Rechtsextreme im Umfragehoch
Und vor allem organisiert er die „Verzetcafés“(„Widerstandscafés“) in ganz Flandern: Abende, an denen Nachkommen von Widerstandskämpfern vor Publikum erzählen, wer ihre Väter, Mütter, Großväter, Großmütter waren, was sie getan haben und warum. Viele von ihnen trauen sich so erstmals, öffentlich über einen Teil ihrer Familiengeschichte zu reden, auf den sie jeden Grund hätten, stolz zu sein.
Die politische Lage Belgiens macht diese Erinnerungsarbeit akut. Heuer finden Wahlen auf allen Ebenen statt. In Umfragen liegt der rechtsextreme Vlaams Belang, der bisweilen ziemlich ungeniert flämischen Kollaborateuren huldigt, in Flandern mit knapp 28 Prozent auf Platz eins. „Als Bürger, als Historiker mache ich mir Sorgen über die Zeit, in der wir leben“, sagt Neudt. „Als Historiker beteilige ich mich aber nicht an Diskussionen darüber, ob die heutigen Rechtsextremen die ideologischen Erben der Nazis sind. Die linke antifaschistische Szene macht es sich damit zu leicht. Für uns zählt die Erinnerung. Das ist kein Projekt gegen den Vlaams Belang.“