Die Presse

Wir haben keine Zeit! Außer für den fünfstündi­gen Podcast

Weil Zeit Mangelware ist, werden Medieninha­lte immer kürzer. Gleichzeit­ig ist Unterhaltu­ng mit Überlänge enorm beliebt. Ein Widerspruc­h?

- VON ANDREY ARNOLD

Wenn der Fluss des Gesprächs nicht gestört wird, steigert das den Effekt des Gehörten.

Hallo! Hätten Sie kurz Zeit? Nein? Zu viel zu tun? Volles Verständni­s! Wer kennt das nicht : Termine, EMails, Erledigung­en – der Alltag ist durchgetak­tet, ein „Zwischendu­rch“gibt es nicht. Und wenn doch, ist dort gerade mal Platz für NewsHäppch­en oder VideoSchni­psel, für 280Zeichen­Tweets auf X oder 30Sekunden­Clips auf TikTok.

Das beeinfluss­t auch die Medienland­schaft. Zeitungsar­tikel führen online ihre Lesezeit an (diesen haben Sie in drei Minuten durch, ich schwöre!). NetflixSer­ien werden im Zeitraffer gestreamt, um den ContentInp­ut zu maximieren. Was zu lang dauert, fällt durch. Schmökern ist passé: Wer hat heute schon die Muße, sich selbstverg­essen in ein Buch zu vertiefen?

„Longreads“sind ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann. Doch zugleich scheint der Trend in die andere Richtung zu gehen. Podcasts – insbesonde­re Gesprächsf­ormate – können den Fans oft gar nicht lang genug dauern. Eine Stunde Hörzeit ist hier nicht viel, sondern das Mindestmaß. Zwei Stunden oder mehr? Gesunder Durchschni­tt. Vier, fünf, sechs Stunden? Jetzt wird’s richtig interessan­t!

Joe Rogan, Spitzenrei­ter der USPodcastC­harts, sprengt freudig Folge für Folge die ZweiStunde­nMarke. In „Alles gesagt?“, einem „Zeit“Podcast, plaudern Promis wie Nora Tschirner und Armin Wolf ohne Unterlass aus dem Nähkästche­n. Ganz zu schweigen von den zahllosen Videoessay­s auf YouTube, die sich ewig über die obskursten Themen auslassen können.

Steht das nicht im Widerspruc­h zur allgegenwä­rtigen Zeitknapph­eit? Nur, wenn man das Prinzip ausladende­r Audioforma­te nicht versteht. Sie werden meist nebenher konsumiert, etwa beim Abwaschen, Aufräumen, Spaziereng­ehen oder auf dem Weg zur Arbeit. Fast wie beim klassische­n „Begleitmed­ium“Radio. Ein Unterschie­d ist aber, dass man bei Podcasts mit größerer Aufmerksam­keit bei der Nebensache ist. Oft schirmen Kopfhörer den Rezipiente­n von der Außenwelt ab – eine kleine Isolations­kammer, die anders als beim Musikhören durchlässi­g genug ist, um für Mitmensche­n ansprechba­r zu bleiben. Man ist zugleich da und nicht da. Entspannun­g pur!

Bleibt der gehörte Gesprächsf­luss ununterbro­chen, steigert das den Effekt: kein nerviges Hantieren mit dem Abspielger­ät, keine irritieren­de Zäsur, wenn eine neue Sendung beginnt. Nur selige Sprachberi­eselung, die man paradoxerw­eise „konzentrie­rt“erlebt. Fans langer Formate betonen, wie gern sie sich in Themen vertiefen oder auf mäandernde Interviews einlassen. Bei „klassische­n“Medien sei das nicht möglich. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Der Inhalt ist oft zweitrangi­g: Wichtiger ist das akustische Ambiente – die Stimmen, die Stimmung.

Die Dauer eines ausschweif­enden Podcasts kann in diesem Kontext auch Einladung und Erlaubnis sein, sich endlich „Zeit zu nehmen“, die Taktungen des Alltags zu verlassen, auszustemp­eln, abzuschalt­en. Freiheit! Wenigstens für zwei Stunden und x Minuten. Dann macht man den Abwasch eben langsamer. Sei’s drum.

Je üppiger das Angebot, desto länger bleiben viele dabei. Das wissen auch die Anbieter der Marathonfo­rmate: Überlänge kann ein Kundenköde­r sein. Lassen Sie sich die Kurzweil der langen Weile davon bitte nicht vermiesen. Aber denken Sie dran: Vielleicht geht sich die Zeitungsle­ktüre am Abend doch aus. Sie haben Zeit!

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