Es wird dunkel? Nichts wie raus!
Nur wer die Finsternis durchstreift, wird auch heute noch eins mit der Natur: Das verheißen zwei inspirierende Bücher. Sollen wir ihnen glauben?
In die Nacht hinauswandern, durch stockdunkle Wälder, über Hügel im Mondenschein: Das klingt sehr romantisch und ein wenig verrückt. Die Nacht ist doch zum Schlafen da! Oder um sie „zum Tag zu machen“, indem man sie durchfeiert, ihre Dämonen vertreibt mit hellem Licht und lauter Musik. Aber sich ihr draußen am Land freiwillig aussetzen, ihrer Finsternis, Stille und Einsamkeit? „Wie ein Dieb in der Nacht“, nach dem Bibelwort? Es gibt Menschen, die so etwas tun, und ganz begeistert davon erzählen. Aber die meisten reagieren auf solche Begeisterung mit Skepsis.
Denn die Nacht hat einen schlechten Ruf, sie gilt als fremd und unheimlich. Unsere Sprache kennt „dunkle Vorahnungen“und „finstere Absichten“, wir sind lieber erleuchtet als umnachtet. Eule und Waldkauz, die ihren Flug erst in der Dämmerung antreten, sind als Totenvögel abgestempelt. Solche Urängste spiegeln sich in Märchen und Sagen, sie gehen zurück auf graue Vorzeiten, als wir uns nach Sonnenuntergang in Höhlen zurückzogen und mit dem Lagerfeuer die Raubtiere fernhielten. Heute lassen wir selber Geister der Finsternis los: Sobald es duster wird, laufen im Fernsehen Krimiserien, und zu noch späterer Stunde Horrorfilme. Als einer der gruseligsten gilt „Blair Witch Project“, eine Pseudodokumentation über drei Freunde, die im Wald brutal ums Leben kommen. Nächtens, versteht sich.
Grenzenlos geborgen
Warum sollten wir uns also ins Herz der Finsternis wagen? Das hat sich schon vor vier Jahren der deutsche Autor Dirk Liesemer gefragt. Als tüchtiger Journalist unternahm er seine „Streifzüge durch die Nacht“mit Profis und recherchierte deren Motive. In der Nacht, hörte er da, erlebe man die Natur besonders intensiv, mit dem Gefühl einer „unglaublichen Freiheit“, weil „man nicht einmal mehr die Dunkelheit als Hindernis empfindet“, sondern sich in ihr zugleich grenzenlos und geborgen fühlt. Man sei der Natur „ausgeliefert“, aber zugleich „nicht so stark von ihr angegangen“, weil weniger Eindrücke auf einen einströmen. Das alles notierte Liesemer, zog aber nur selten alleine los.
Radikaler ist es nun der Engländer John LewisStempel angegangen, für sein Buch „Wandern bei Nacht“. Der vazierende Landwirt gilt in seiner Heimat als „the hottest nature writer around“. Das macht ihn bei den Briten, die auch Vogelbeobachtung für eine ausgesprochen „hotte“Freizeitbeschäftigung halten, über die man beim Tee ausgiebig plaudern kann, zum Beststellerautor. Er rückt immer solo aus, nur eine LabradorHündin ist an seiner Seite, damit man ihn nicht für einen Verbrecher hält. Dabei trifft er ohnehin nie jemanden, wie denn auch.
Seine Taschenlampe nutzt er nur im Notfall. Denn, wie wir lernen: Die Nacht ist heller als gedacht. Nach einer halben Stunde haben sich unsere Augen angepasst. Bei Vollmond könnte man sogar Zeitung lesen. Im übrigen wird das „Sensorium komplett neu sortiert“: Wir hören, riechen, erfühlen viel genauer. „Jede Baumart hat ihren eigenen Klang, wenn der Wind durch ihr Laub streicht“– Espen wispern, Tannen zischen. Wir spüren am Luftzug, ob wir gleich gegen einen Stamm knallen. Wir hören Hirsche röhren oder Füchse bellen, wenn sie nach einer Partnerin gieren, „vielleicht der einsamste Klang der Welt“. Spitzmäuse scharren sanft im Laub, Dachse „keuchen und prusten“und Igel schnarchen, wie wir Menschen. Die Nachtigallen und ihre nördlichen Verwandten, die Sprosser, singen nachtlang ihre 260 Lieder.
Und dann die Gerüche: Wo ein Dachs vorbeikam, stinkt es „widerlich ranzig“, die Füchsin verbreitet Moschus, und sobald es nach Maggi riecht, ist WildschweinAlarm – die Bachen, die über ihre Frischlinge wachen, sind die einzige echte Gefahr in nächtlichen Wäldern. Ansonsten erwarten uns harmlose Abenteuer, wie boxende Hasen auf Lichtungen. Wir bekommen Wiesen voller Glühwürmchen zu sehen, flackernde Irrlichter in Feuchtgebieten, aber auch gespenstisch grün leuchtende Baumstümpfe – ein Resultat chemischer Prozesse in HallimaschPilzen. Wer hätte das gedacht!
Oden der Romantiker
Schon bei Liesemer haben wir staunend erfahren, dass es in unseren Breiten dreieinhalbtausend Nachtfalterarten gibt, und überhaupt mehr als die Hälfte aller Tierarten nachtaktiv sind. Falls wir sie trotzdem nicht wahrnehmen, erheben wir die Augen zum Himmel. In der Stadt sehen wir nur mehr eine Handvoll Sterne, aber in der Wildnis, hinter den Bergen, noch bis zu 4000. Die Dichter der Romantik hatten es da viel leichter. Das mag ihre hymnischen Oden an die Nacht erklären. Am schönsten vielleicht bei Lord Byron: „Nacht / war traulicher für mich von Angesicht / als Menschen, und in ihres Sternendunkels / geheimer, sanfter Lieblichkeit erlernte / die Sprache ich von einer andern Welt.“Dass man von dieser anderen Welt auch in unseren heutigen Sprachen erzählen kann, zeigen die beiden Bücher. Und nach der Lektüre: Nichts wie raus ins Dunkel!