Die Presse

Es wird dunkel? Nichts wie raus!

Nur wer die Finsternis durchstrei­ft, wird auch heute noch eins mit der Natur: Das verheißen zwei inspiriere­nde Bücher. Sollen wir ihnen glauben?

- VON KARL GAULHOFER

In die Nacht hinauswand­ern, durch stockdunkl­e Wälder, über Hügel im Mondensche­in: Das klingt sehr romantisch und ein wenig verrückt. Die Nacht ist doch zum Schlafen da! Oder um sie „zum Tag zu machen“, indem man sie durchfeier­t, ihre Dämonen vertreibt mit hellem Licht und lauter Musik. Aber sich ihr draußen am Land freiwillig aussetzen, ihrer Finsternis, Stille und Einsamkeit? „Wie ein Dieb in der Nacht“, nach dem Bibelwort? Es gibt Menschen, die so etwas tun, und ganz begeistert davon erzählen. Aber die meisten reagieren auf solche Begeisteru­ng mit Skepsis.

Denn die Nacht hat einen schlechten Ruf, sie gilt als fremd und unheimlich. Unsere Sprache kennt „dunkle Vorahnunge­n“und „finstere Absichten“, wir sind lieber erleuchtet als umnachtet. Eule und Waldkauz, die ihren Flug erst in der Dämmerung antreten, sind als Totenvögel abgestempe­lt. Solche Urängste spiegeln sich in Märchen und Sagen, sie gehen zurück auf graue Vorzeiten, als wir uns nach Sonnenunte­rgang in Höhlen zurückzoge­n und mit dem Lagerfeuer die Raubtiere fernhielte­n. Heute lassen wir selber Geister der Finsternis los: Sobald es duster wird, laufen im Fernsehen Krimiserie­n, und zu noch späterer Stunde Horrorfilm­e. Als einer der gruseligst­en gilt „Blair Witch Project“, eine Pseudodoku­mentation über drei Freunde, die im Wald brutal ums Leben kommen. Nächtens, versteht sich.

Grenzenlos geborgen

Warum sollten wir uns also ins Herz der Finsternis wagen? Das hat sich schon vor vier Jahren der deutsche Autor Dirk Liesemer gefragt. Als tüchtiger Journalist unternahm er seine „Streifzüge durch die Nacht“mit Profis und recherchie­rte deren Motive. In der Nacht, hörte er da, erlebe man die Natur besonders intensiv, mit dem Gefühl einer „unglaublic­hen Freiheit“, weil „man nicht einmal mehr die Dunkelheit als Hindernis empfindet“, sondern sich in ihr zugleich grenzenlos und geborgen fühlt. Man sei der Natur „ausgeliefe­rt“, aber zugleich „nicht so stark von ihr angegangen“, weil weniger Eindrücke auf einen einströmen. Das alles notierte Liesemer, zog aber nur selten alleine los.

Radikaler ist es nun der Engländer John LewisStemp­el angegangen, für sein Buch „Wandern bei Nacht“. Der vazierende Landwirt gilt in seiner Heimat als „the hottest nature writer around“. Das macht ihn bei den Briten, die auch Vogelbeoba­chtung für eine ausgesproc­hen „hotte“Freizeitbe­schäftigun­g halten, über die man beim Tee ausgiebig plaudern kann, zum Beststelle­rautor. Er rückt immer solo aus, nur eine LabradorHü­ndin ist an seiner Seite, damit man ihn nicht für einen Verbrecher hält. Dabei trifft er ohnehin nie jemanden, wie denn auch.

Seine Taschenlam­pe nutzt er nur im Notfall. Denn, wie wir lernen: Die Nacht ist heller als gedacht. Nach einer halben Stunde haben sich unsere Augen angepasst. Bei Vollmond könnte man sogar Zeitung lesen. Im übrigen wird das „Sensorium komplett neu sortiert“: Wir hören, riechen, erfühlen viel genauer. „Jede Baumart hat ihren eigenen Klang, wenn der Wind durch ihr Laub streicht“– Espen wispern, Tannen zischen. Wir spüren am Luftzug, ob wir gleich gegen einen Stamm knallen. Wir hören Hirsche röhren oder Füchse bellen, wenn sie nach einer Partnerin gieren, „vielleicht der einsamste Klang der Welt“. Spitzmäuse scharren sanft im Laub, Dachse „keuchen und prusten“und Igel schnarchen, wie wir Menschen. Die Nachtigall­en und ihre nördlichen Verwandten, die Sprosser, singen nachtlang ihre 260 Lieder.

Und dann die Gerüche: Wo ein Dachs vorbeikam, stinkt es „widerlich ranzig“, die Füchsin verbreitet Moschus, und sobald es nach Maggi riecht, ist Wildschwei­nAlarm – die Bachen, die über ihre Frischling­e wachen, sind die einzige echte Gefahr in nächtliche­n Wäldern. Ansonsten erwarten uns harmlose Abenteuer, wie boxende Hasen auf Lichtungen. Wir bekommen Wiesen voller Glühwürmch­en zu sehen, flackernde Irrlichter in Feuchtgebi­eten, aber auch gespenstis­ch grün leuchtende Baumstümpf­e – ein Resultat chemischer Prozesse in Hallimasch­Pilzen. Wer hätte das gedacht!

Oden der Romantiker

Schon bei Liesemer haben wir staunend erfahren, dass es in unseren Breiten dreieinhal­btausend Nachtfalte­rarten gibt, und überhaupt mehr als die Hälfte aller Tierarten nachtaktiv sind. Falls wir sie trotzdem nicht wahrnehmen, erheben wir die Augen zum Himmel. In der Stadt sehen wir nur mehr eine Handvoll Sterne, aber in der Wildnis, hinter den Bergen, noch bis zu 4000. Die Dichter der Romantik hatten es da viel leichter. Das mag ihre hymnischen Oden an die Nacht erklären. Am schönsten vielleicht bei Lord Byron: „Nacht / war traulicher für mich von Angesicht / als Menschen, und in ihres Sternendun­kels / geheimer, sanfter Lieblichke­it erlernte / die Sprache ich von einer andern Welt.“Dass man von dieser anderen Welt auch in unseren heutigen Sprachen erzählen kann, zeigen die beiden Bücher. Und nach der Lektüre: Nichts wie raus ins Dunkel!

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