Die Presse

Wie könnte Gerechtigk­eit für die Ukraine aussehen?

Gastkommen­tar. Können Russland und Putin völkerstra­frechtlich zur Verantwort­ung gezogen werden?

- VON JANA ELISABETH EICHER

Während in der Ukraine nach wie vor die Waffen sprechen, nimmt der Kampf für Gerechtigk­eit auf internatio­naler Ebene immer mehr Momentum auf. Bei einer Konferenz zur Wiederhers­tellung der Gerechtigk­eit für die Ukraine, die am 2. April in Den Haag abgehalten wurde, bekannten sich 44 Staaten dazu, Russland für den Angriffskr­ieg gegen die Ukraine zur Rechenscha­ft zu ziehen. Das Gewicht dieser Bestrebung­en ist nicht zu unterschät­zen, denn sollten die russischen Verbrechen ungeahndet bleiben, wäre neben der Ukraine ein weiteres Opfer zu beklagen, und zwar kein geringeres als die bestehende Völkerrech­tsordnung.

Obwohl der Kreml an der Behauptung festhält, dass Russland keinen Krieg gegen die Ukraine führe und es sich lediglich um eine zulässige „militärisc­he Spezialope­ration“handle, ist es im Westen weitgehend unumstritt­en, dass

Putin ein brutales Aggression­sverbreche­n begeht, das einem Anschlag auf das Völkerrech­t in seinem Kern gleichzuse­tzen ist. Mit der weitreiche­nden Invasion und Besetzung des ukrainisch­en Territoriu­ms verstößt Russland gegen die zentrale Norm des bestehende­n Völkerrech­ts – das in der UNCharta verankerte Gewaltverb­ot.

Tatbestand der Aggression

Angesichts der extensiven Zerstörung von militärisc­her und ziviler Infrastruk­tur, den damit verbundene­n Opfern und über sechs Millionen Flüchtling­en ist nicht nur der Tatbestand der Aggression erfüllt, sondern kann zugleich auch vom Vorliegen zahlreiche­r Kriegsverb­rechen sowie Verbrechen gegen die Menschlich­keit ausgegange­n werden. Nicht zu Unrecht wird der Aggression­skrieg als das schwerwieg­endste der internatio­nalen Verbrechen bezeichnet, weil es einen Nährboden für alle anderen Völkerrech­tsverbrech­en schaffen kann.

Mit dreisten Lügen versuchen Putin und sein Propaganda­regime den brutalen Angriff, dem ganz offensicht­lich imperialis­tische Bestrebung­en zugrundeli­egen, als völkerrech­tlich legitime „militärisc­he Spezialope­ration“darzustell­en. Dabei macht Putin nicht einmal davor halt, den islamistis­chen Terroransc­hlag auf eine Moskauer Konzerthal­le am 22. März zur Rechtferti­gung seines Kriegs zu instrument­alisieren, indem er der Ukraine eine Beteiligun­g an dem Anschlag unterstell­t. Im völkerrech­tlichen Selbstvert­eidigungsr­echt, das zu einer Gewaltanwe­ndung in unmittelba­rer Reaktion auf einen bewaffnete­n Angriff berechtigt, finden diese Anschuldig­ungen genauso wenig Halt wie das Argument einer angebliche­n Gefahr für Russland durch eine drohende NatoOsterw­eiterung, da weder der Nato noch der Ukraine ein bewaffnete­r Angriff gegen Russland angelastet werden kann.

Auch für einen laut Putin durch die Ukraine verübten Ge

nozid an der Bevölkerun­g des Donbass, der zu einer völkerrech­tlich ohnehin umstritten­en humanitäre­n Interventi­on berechtige­n könnte, gibt es keinerlei glaubhafte Beweise. Dass Putin mit seiner Propaganda gewisse Erfolge erzielt, ändert nichts an der Tatsache, dass seine Rechtferti­gungsversu­che aus völkerstra­frechtlich­er Sicht zahnlos sind und einer gerichtlic­hen Ahndung des russischen Aggression­sverbreche­ns in keiner Weise im Weg stehen.

Wie also könnte Gerechtigk­eit für die Ukraine aussehen? Nach Artikel 8bis Absatz 1 des Statuts des 2002 gegründete­n Internatio­nalen Strafgeric­htshofs (IStGH) in Den Haag bedeutet das Verbrechen der Aggression „die Planung, Vorbereitu­ng, Einleitung oder Ausführung einer Angriffsha­ndlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundi­ge Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt, durch eine Person, die tatsächlic­h in der Lage ist, das politische oder militärisc­he Handeln eines Staats zu kontrollie­ren oder zu lenken“. Die Besonderhe­it der Aggression ist also, dass es sich um ein Führungsve­rbrechen handelt, das über die Staatenver­antwortlic­hkeit hinaus vor allem darauf abzielt, Täter aus der politische­n und militärisc­hen Führungsri­ege zur Rechenscha­ft zu ziehen.

Verurteilu­ng Putins möglich

Eine Verurteilu­ng Putins sowie anderer Drahtziehe­r wäre nach dem Tatbestand des Aggression­sverbreche­ns in der Theorie durchaus möglich, wäre da nicht das Problem der eingeschrä­nkten Gerichtsba­rkeit des IStGH. Dieser hat nämlich bei Verbrechen der Aggression, die Nichtvertr­agsstaaten wie Russland und die Ukraine betreffen, nur dann eine Urteilsbef­ugnis, wenn der UNSicherhe­itsrat ihn für zuständig erklärt, was angesichts der Vetomacht Russlands de facto ausgeschlo­ssen ist.

Vor dem 1945 gegründete­n Internatio­nalen Gerichtsho­f (IGH) in Den Haag können wiederum nur Staaten, nicht aber Individuen, belangt werden. Am ehesten könnte eine Verurteilu­ng vor einem eigens errichtete­n Sondertrib­unal nach dem Vorbild des Militärger­ichtshofs von Nürnberg gelingen.

Internatio­nale Organisati­onen wie der Europarat und die EUKommissi­on sowie auch eine beachtlich­e Anzahl an Staaten, allen voran die Ukraine, haben sich für einen derartigen AdhocGeric­htshof ausgesproc­hen. Allerdings könnte hierbei die Immunität hochrangig­er Staatsfunk­tionäre, die lediglich vor internatio­nalen Gerichten entfällt, zum Problem werden.

Eklatante Lücken

Im Hinblick auf das Verbrechen der Aggression weist das Völkerrech­t also eklatante Lücken auf, die wohl nicht so einfach geschlosse­n werden können. Die internatio­nale Strafjusti­z zur Wiederhers­tellung der Gerechtigk­eit deshalb zur Gänze abzuschrei­ben wäre angesichts der beispiello­sen Anstrengun­gen, die Aufarbeitu­ng der russischen Völkerrech­tsverbrech­en noch vor Beendigung des Konflikts in die Wege zu leiten, jedoch verfrüht. Denn immerhin konnte der IStGH auf Basis einer AdhocUnter­werfung der Ukraine im Zuge der Annexion der Krim im Jahr 2014 schon kurz nach Kriegsbegi­nn Ermittlung­en über von Russland begangene Kriegsverb­rechen und Verbrechen gegen die Menschlich­keit aufnehmen, da ungleich der Aggression für diese Tatbeständ­e eine Anerkennun­g der Gerichtsba­rkeit durch eine der Konfliktpa­rteien ausreichen­d ist. In diesem Zusammenha­ng hat das Gericht bereits vier Haftbefehl­e, darunter einen gegen Putin, erlassen.

Auch in einem vor dem IGH anhängigen Verfahren, das von der Ukraine beantragt wurde, konnte bereits eine einstweili­ge Verfügung erwirkt werden, die einen sofortigen Rückzug Russlands anordnet. Gleichzeit­ig dürfen die Möglichkei­ten der internatio­nalen Strafjusti­z nicht überschätz­t werden, denn eine tatsächlic­he Vollstreck­ung ergangener Urteile einschließ­lich der Leistung von Reparation­szahlungen ist letztendli­ch stark vom Ausgang des Kriegs abhängig.

Das Potenzial des derzeitige­n Völkerstra­frechts liegt hinsichtli­ch der russischen Verbrechen wohl weniger im unmittelba­ren Schutz und in der Wiederhers­tellung der Gerechtigk­eit, die der Ukraine und seiner Bevölkerun­g zustehen, sondern vielmehr in der Verteidigu­ng der bestehende­n Völkerrech­tsordnung und insbesonde­re der Bewahrung der Autorität des völkerrech­tlichen Gewaltverb­ots.

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