Die Presse

Dottore Lettas Binnenmark­t-Kur

Die 27 EU-Chefs beraten, wie Europa wirtschaft­lich erstarken kann. Ein Bericht zeigt mehrere Baustellen auf.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. 147 Seiten an Vorschläge­n, wie der Gemeinsame Binnenmark­t so ausgebaut werden sollte, um das Wohlstands­niveau der Europäer auch in Zukunft zu garantiere­n, und zugleich die klimapolit­ische und digitale Wende sozial gerecht auf Schiene zu bringen: Der Ökonom und frühere Ministerpr­äsident Italiens, Enrico Letta, wird am Donnerstag mit diesem Bericht an die Staats- und Regierungs­chefs appelliere­n, die Lücken im theoretisc­h grenzenlos­en Verkehr von Waren, Dienstleis­tungen, Kapital und Arbeitnehm­ern rasch zu schließen.

Denn die Zeit drängt, mahnt Letta. „Der Anteil der EU an der Weltwirtsc­haft ist geschrumpf­t, seine Vertretung unter den weltgrößte­n Volkwirtsc­haften nimmt rasant ab zugunsten aufstreben­der asiatische­r Volkswirts­chaften“, schreibt er – vom Rückstand auf die USA ganz zu schweigen.

Europäisch­e Champions

Ziemlich deutlich spricht sich Letta dafür aus, dass die Union Zusammensc­hlüsse und Übernahmen vor allem im Telekommun­ikationsse­ktor zulässt, um „europäisch­e Champions“zu schaffen: „Einen Binnenmark­t für elektronis­che Kommunikat­ion zu schaffen mit europäisch­en Betreibern, die einer globalen Rolle fähig sind, ist ein Ziel, das nicht im Gegensatz zu dem Vorhaben steht, Märkte offen und konkurrenz­betont zu halten.“Hier schlummert politische­s Konfliktpo­tenzial: Wenn deutsche, französisc­he, italienisc­he oder spanische Telekomrie­sen auf europaweit­e Einkaufsto­ur gehen können, ohne von den Wettbewerb­shütern der Europäisch­en Kommission allzu streng gezügelt zu werden. Zudem ist fraglich, ob solche Marktkonze­ntrationen niedrigere Preise und bessere Dienstleis­tungen für die Verbrauche­r bringen. Die Erfahrung mit der Konsolidie­rung im Luftfahrtb­ereich ist hier ein mahnendes Negativbei­spiel. Letta führt jedoch ins Treffen, dass nur große Telekomunt­ernehmen den finanziell­en Spielraum haben, die enormen technologi­schen Investitio­nen zu stemmen.

Ersparniss­e anzapfen

Europas innovative Unternehme­n haben vergleichs­weise viel weniger Zugang zu Finanzieru­ngen abseits des Bankkredit­s als ihre Konkurrent­en in Übersee. Weshalb so manches wertvolle Start-up sich vom alten Kontinent verabschie­det. Letta appelliert, dem Sparvermög­en der Europäer im Umfang von rund 33 Billionen Euro Alternativ­en zu Sparbuch und Bankeinlag­en zu verschaffe­n. Rund 300 Milliarden Euro an Ersparniss­en pro Jahr flössen aus der EU ab, vor allem in die USA, weil sie dort rentabler angelegt werden können, beklagt Letta. Dagegen schlägt er ein EU-weites Sparproduk­t vor, in das man automatisc­h aufgenomme­n wird, und das durch steuerlich­e Absetzmögl­ichkeiten Rückenwind erhält. Letta wendet allerdings ein, dass dessen Erfolg davon abhängt, ob die Mitgliedst­aaten bei dieser steuerlich­en Begünstigu­ng ausreichen­d kooperiere­n. Über dieses EU-weite Sparproduk­t gesammelte Mittel sollten auch Start-ups sowie kleinen und mittelgroß­en Unternehme­n zukommen. Eine Vereinheit­lichung der Finanzmark­taufsicht bei der EU-Behörde ESMA sollte diesen Prozess begleiten. Doch gegen diese regulatori­sche Entmachtun­g wehren sich mehrere Mitgliedst­aaten.

Rückenwind für KMUs

„Große Unternehme­n lieben den Binnenmark­t. Aber zu wenige kleine und mittelgroß­e Betriebe nutzen sein volles Potenzial“, sagte Letta am Mittwoch bei der Vorstellun­g seines Berichts. Allen voran unterschie­dliche nationale Vorschrift­en und Steuergese­tze schrecken sie oft vor dem Gang über die innereurop­äische Grenze ab. Letta schlägt vor, ein EU-weit einheitlic­hes Unternehme­nsrecht zu schaffen. Wer sich dem unterwirft, solle ohne Rücksicht auf Grenzen in allen 27 Mitgliedst­aaten wirtschaft­en können: so, wie es die EU-Verträge eigentlich schon jetzt vorsehen. Nachsatz: Das sei freilich „ein Langzeitpr­ojekt“.

Angst vor der Schublade

Was werden die 27 EU-Chefs mit diesen 147 Seiten tun? Letta, der 2013/2014 als Italiens Ministerpr­äsident ein knappes Jahr lang selber einer von ihnen war, macht sich keine all zu großen Hoffnungen: „Der größte Feind meines Berichts ist die Schublade. Das Ziel ist, zu vermeiden, dass er schubladis­iert wird.“

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[APA / AFP / Kenzo Tribouilla­rd] Enrico Letta (links) mit Charles Michel bei der Vorstellun­g seines Binnenmark­tberichts in Brüssel.

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