Dottore Lettas Binnenmarkt-Kur
Die 27 EU-Chefs beraten, wie Europa wirtschaftlich erstarken kann. Ein Bericht zeigt mehrere Baustellen auf.
Brüssel. 147 Seiten an Vorschlägen, wie der Gemeinsame Binnenmarkt so ausgebaut werden sollte, um das Wohlstandsniveau der Europäer auch in Zukunft zu garantieren, und zugleich die klimapolitische und digitale Wende sozial gerecht auf Schiene zu bringen: Der Ökonom und frühere Ministerpräsident Italiens, Enrico Letta, wird am Donnerstag mit diesem Bericht an die Staats- und Regierungschefs appellieren, die Lücken im theoretisch grenzenlosen Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitnehmern rasch zu schließen.
Denn die Zeit drängt, mahnt Letta. „Der Anteil der EU an der Weltwirtschaft ist geschrumpft, seine Vertretung unter den weltgrößten Volkwirtschaften nimmt rasant ab zugunsten aufstrebender asiatischer Volkswirtschaften“, schreibt er – vom Rückstand auf die USA ganz zu schweigen.
Europäische Champions
Ziemlich deutlich spricht sich Letta dafür aus, dass die Union Zusammenschlüsse und Übernahmen vor allem im Telekommunikationssektor zulässt, um „europäische Champions“zu schaffen: „Einen Binnenmarkt für elektronische Kommunikation zu schaffen mit europäischen Betreibern, die einer globalen Rolle fähig sind, ist ein Ziel, das nicht im Gegensatz zu dem Vorhaben steht, Märkte offen und konkurrenzbetont zu halten.“Hier schlummert politisches Konfliktpotenzial: Wenn deutsche, französische, italienische oder spanische Telekomriesen auf europaweite Einkaufstour gehen können, ohne von den Wettbewerbshütern der Europäischen Kommission allzu streng gezügelt zu werden. Zudem ist fraglich, ob solche Marktkonzentrationen niedrigere Preise und bessere Dienstleistungen für die Verbraucher bringen. Die Erfahrung mit der Konsolidierung im Luftfahrtbereich ist hier ein mahnendes Negativbeispiel. Letta führt jedoch ins Treffen, dass nur große Telekomunternehmen den finanziellen Spielraum haben, die enormen technologischen Investitionen zu stemmen.
Ersparnisse anzapfen
Europas innovative Unternehmen haben vergleichsweise viel weniger Zugang zu Finanzierungen abseits des Bankkredits als ihre Konkurrenten in Übersee. Weshalb so manches wertvolle Start-up sich vom alten Kontinent verabschiedet. Letta appelliert, dem Sparvermögen der Europäer im Umfang von rund 33 Billionen Euro Alternativen zu Sparbuch und Bankeinlagen zu verschaffen. Rund 300 Milliarden Euro an Ersparnissen pro Jahr flössen aus der EU ab, vor allem in die USA, weil sie dort rentabler angelegt werden können, beklagt Letta. Dagegen schlägt er ein EU-weites Sparprodukt vor, in das man automatisch aufgenommen wird, und das durch steuerliche Absetzmöglichkeiten Rückenwind erhält. Letta wendet allerdings ein, dass dessen Erfolg davon abhängt, ob die Mitgliedstaaten bei dieser steuerlichen Begünstigung ausreichend kooperieren. Über dieses EU-weite Sparprodukt gesammelte Mittel sollten auch Start-ups sowie kleinen und mittelgroßen Unternehmen zukommen. Eine Vereinheitlichung der Finanzmarktaufsicht bei der EU-Behörde ESMA sollte diesen Prozess begleiten. Doch gegen diese regulatorische Entmachtung wehren sich mehrere Mitgliedstaaten.
Rückenwind für KMUs
„Große Unternehmen lieben den Binnenmarkt. Aber zu wenige kleine und mittelgroße Betriebe nutzen sein volles Potenzial“, sagte Letta am Mittwoch bei der Vorstellung seines Berichts. Allen voran unterschiedliche nationale Vorschriften und Steuergesetze schrecken sie oft vor dem Gang über die innereuropäische Grenze ab. Letta schlägt vor, ein EU-weit einheitliches Unternehmensrecht zu schaffen. Wer sich dem unterwirft, solle ohne Rücksicht auf Grenzen in allen 27 Mitgliedstaaten wirtschaften können: so, wie es die EU-Verträge eigentlich schon jetzt vorsehen. Nachsatz: Das sei freilich „ein Langzeitprojekt“.
Angst vor der Schublade
Was werden die 27 EU-Chefs mit diesen 147 Seiten tun? Letta, der 2013/2014 als Italiens Ministerpräsident ein knappes Jahr lang selber einer von ihnen war, macht sich keine all zu großen Hoffnungen: „Der größte Feind meines Berichts ist die Schublade. Das Ziel ist, zu vermeiden, dass er schubladisiert wird.“