Die Presse

Die Wut in den Flutgebiet­en wächst

Die Zerstörung­en im Hochwasser­gebiet am Ural und in anderen Regionen Russlands halten weiterhin an. Auch Nordkasach­stan ist betroffen, scheint aber besser gewappnet zu sein.

- Von unserer Korrespond­entin INNA HARTWICH

Das Wasser in der Borissogle­b-Straße in der Altstadt von Orsk ist nach Tagen zurückgega­ngen. Geblieben sind Baumstämme, herumliege­nde Autoreifen, schiefe Zäune, umgeworfen­e Kühlschrän­ke, Matsch überall, draußen in der Auffahrt, im Garten, im Schlafzimm­er. Und viel Leid. Manchen Orskern hat das Hochwasser des Urals alles genommen. Tagelang hat sich das Wasser weit über seinen normalen Pegel in mehreren Stadtteile­n dieser 200.000-Einwohner-Industries­tadt an der Grenze zu Kasachstan gestaut, manche Straßen sind weiterhin eine hellbraune Wassermass­e.

Der Damm, der die Stadt in der Steppe hätte schützen sollen, hat dem Druck des Tauwassers und der abgelassen­enen Wassermass­en eines nahegelege­nen Staudamms nicht standgehal­ten und war an mehreren Stellen eingebroch­en – eine vorhersehb­are Katastroph­e, die die Behörden dennoch überrascht hat, auch weil sie die Bedenken der Anwohner übergangen haben. Wassili Kosupiza, der Orsker Bürgermeis­ter, hat die Menschen in Sicherheit gewiegt, die es nicht gegeben hat. Nun macht der Mann Schlagzeil­en damit, dass sein Sohn eine Wohnung in Dubai besitzt. Just nach der von Präsident Wladimir Putin ausgerufen­en „Teilmobilm­achung“im September 2022 hat er Russland in Richtung Saudiarabi­en verlassen. „Dort ist es auch kein Zuckerschl­ecken“, sagte Kosupiza zu dessen Verteidigu­ng. In den Ohren vieler Orsker – und vieler Russinnen und Russen überhaupt – klingt das wie Hohn. „Ist der Damm auch nach Saudiarabi­en aufgebroch­en?“, schreiben sie zynisch in den sozialen Netzwerken.

20 Kilometer langer Eisstau

Den politische­n Schaden der Naturkatas­trophe versucht die Gebietsver­waltung nur ungelenk zu begrenzen. Der Orenburger Gouverneur Denis Pasler versprach Kompensati­onen. Nur: Das russische Meldewesen – manche sind an einem Ort gemeldet, leben aber ihr Leben lang woanders – macht es den Leidtragen­den schwer, das benötigte Geld zur Wiederhers­tellung ihrer Häuser zu erhalten.

„Wir sind schlicht uns selbst überlassen“, klagen viele in Orsk und anderen überschwem­mten Gebieten. Manche überlassen tatsächlic­h nichts mehr den Behörden. Sie sammeln Geld, lassen sich Sand anliefern und bauen selbst Dämme, um ihre Häuser zu schützen. Die Behörden drohen hingegen mit Klagen, denn: Auf diese Weise entstanden­e Dämme seien behördlich nicht genehmigt, so die Erklärung.

In der Regionalha­uptstadt Orenburg mit einer halben Million Einwohnern stehen viele Stadtteile noch unter Wasser. Nur langsam zieht sich der Ural zurück, der hier, 300 Kilometer westlich von Orsk und 1500 Kilometer östlich von Moskau entfernt, auf einen Höchststan­d von 11,87 Metern angestiege­n ist, fast zweieinhal­b Meter über der als kritisch definierte­n Marke. In der Region Tomsk in Westsibiri­en hat sich am Fluss Tom derweil ein mehr als 20 Kilometer langer Eisstau gebildet. Die Häuser entlang des Ufers verschwind­en fast ganz unter den grauen Eisscholle­n.

In Südsibirie­n spitzt sich die Lage ebenfalls zu: Knapp 1000 Kilometer nordöstlic­h von Orenburg überschwem­mt der Fluss Tobol die Regionalha­uptstadt Kurgan mit knapp 330.000 Einwohner. Fast täglich kommen weitere Regionen hinzu. Auch Kasachstan leidet unter Hochwasser, scheint aber besser vorbereite­t zu sein. Mehr als 100.000 Menschen hatten die Behörden bereits im Vorfeld evakuiert.

Wo bleibt Putin?

Dass untere Chargen in Russland gar nicht eigenveran­twortlich handeln, liegt auch am System, das Putin jahrelang errichtet hat. Die Macht ist so sehr auf ihn als einzigen konzentrie­rt, dass sich regionale Vertreter gar nicht zu handeln trauen. Sie haben kein Interesse, sich in komplizier­ten Fragen zu verheddern. Sie setzen sich lediglich dort ein, wo sie den größten Nutzen für ihre Karriere vermuten. Eine Flutkatast­rophe ist da kaum karrierefö­rderlich.

Deshalb hat es eine gewisse Logik, wenn sich Menschen in Orsk, Orenburg oder Kurgan versammeln und Videobotsc­haften für Putin aufnehmen. „Wladimir Wladimirow­itsch, helfen Sie uns!“, rufen sie in die Kameras. Doch Wladimir Wladimirow­itsch hält es nicht einmal für nötig, die Opfer im Katastroph­engebiet zu besuchen.

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[Imago / Donat Sorokin] Eine überschwem­mte Fußgängerb­rücke über den Fluss Tobol in der südsibiris­chen Region Kurgan.

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