„Hier alles tabu“: Zuhause bei Friederike Mayröcker
Im Literaturmuseum der Nationalbibliothek wird das Schreibreich der vor 100 Jahren geborenen Autorin lebendig - auch als VR.
Freunde konventioneller Ordnung würden Messie-Wohnung dazu sagen, sehr zu Unrecht. Wo man hinblickt, stapeln sich abenteuerlich Massen aus Papier, Büchern und anderem „Zeug“, Durchgehen, das geht gerade noch. In diesem scheinbaren Chaos (Mayröcker: „Es sieht aus wie ein Chaos, aber es ist kein Chaos“) materialisierte sich das, womit, wovon und wofür Friederike Mayröcker bis zu ihrem Tod 2021 lebte.
Im Literaturmuseum der Nationalbibliothek findet man sich nun mittendrin in diesem realiter verschwundenen Schreibreich: Die Fotografin Claudia Larcher hat es noch zu Mayröckers Lebzeiten fotografiert, die Ausstellung „ich denke in langsamen Blitzen“nun eine Virtuelle Realität-Installation draus gemacht.
In ihr hört man die österreichische Autorin davon erzählen, wie sich ihr gerade in diesen Räumen „andere Dimensionen“öffnen, wie sie sie auf Reisen nie gefunden hat. Von ihrer „medialen Veranlagung“und ihrem Leben als „Augenmensch“– aus Gang und Haltung von Menschen etwa würden sich ihr sofort Wesentliches über diese erschließen, und oft werde bei ihr ein Bild sofort zum Wort. Und von ihren „Verbalträumen“, die ihr nachts „Welten öffnen, die ich am Tag nicht empfangen kann“.
Wie unbändig und reich, wie offen und verspielt diese Welten sind, wie zugänglich letztlich für Menschen fast allen Alters, erlebt man hier ebenfalls. Während nämlich Mayröckers Wiener Wohnung im Literaturmuseum „nur“als VR „anwesend“ist, sind viele Details daraus wirklich physisch hierher gewandert.
Ihr „alt gewordenes Kindsein“
Dazu zählen etwa ihre Warnschilder für Besucher – „Hier alles Tabu“– oder einige ihrer unzähligen kleinen Zeichnungen, die sie „Spontangedichte“nannte und an allen möglichen Orten wie etwa Bonbonnieren oder Wäschekluppen platzieren konnte. Ihr „alt gewordenes Kindsein“(Mayröcker) manifestiert sich hier: in Tierzeichnungen (wie „Hasenpfote“oder „geschmetter Ling“) oder auch Schutzgeistern (etwa „gegen die Tücke des Objekts“oder „gegen Zudringlichkeiten, Erfrieren, Vergesslichkeit, kleine Unfälle“). Ihren „ABC-Thriller“, der zu jedem Buchstaben eine Zeichnung mit Text bietet (etwa „Cäsar, der Clown mit der bleichen Stirn“), kann man hier sogar selbst weiterschreiben oder - zeichnen.
Ebenso weiterschreiben kann man hier ihr Buch „brütt oder Die seufzenden Gärten“(2014): ein „Liebeswerk“, das „Wahrnehmungsmomente einer Altersliebe“einfängt, wie Autor Clemens Setz es in einem Video der Ausstellung formuliert. In seinen Augen ist es Mayröckers „gewichtigster und reichhaltigster Text“. Wenn er das lese, fühle er sich „von klassischer realistischer Erzählprosa sehr verarmt und allein gelassen“. Weitere persönlich gehaltene Autoren-Videos über die verehrte Kollegin stammen von Helga Schubert, Teresa Präauer, Anna Baar, Marcel Beyer und Sandro Huber. Letzterer hat übrigens für den empfehlenswerten Begleitband eine wundervolle Liebeserklärung an das Werk der Autorin verfasst.
„Ich bau mein Haus im Fliederbusch bei Fink und Star und Amsel und füttere mein Eselein mit Sonne und mit Regen“: Für das „Lied vom Eselein“wünscht man sich gleich eine Kinderrunde herbei. Auch als Autorin von Kinderbüchern (ein gutes Dutzend!) lernt man Mayröcker hier kennen. Und als Kunst- und Musikbegeisterte, die ihre Euphorie beim Hören von Bachs Kantaten als „Schwungrad“nutzte oder sich im „Wahnwitz“des Malers Francis Bacon wiederfand. Alles in allem ein wunderbares Geburtstagsgeschenk zu Mayröckers Hunderter am 20. Dezember. Man wünschte, sie könnte es erleben.