Die Presse

Zu früh aufgeben sollte man Europa nicht

In jeder Krise liegt eine große Möglichkei­t. Das 21. Jahrhunder­t kann noch sehr überrasche­nd zu einem neuen amerikanis­ch-europäisch­en Jahrhunder­t werden. Die Alternativ­en jedenfalls sind schlechter.

- VON MATHIAS DÖPFNER

Die Aggression eines autokratis­chen und totalitäre­n Führers wie Putin hat viele demokratis­che Politiker überrascht. Man traute es ihm nicht zu, weil man die Psychologi­e und die Mechanisme­n des eigenen demokratis­chen Handelns auf den Führer eines autokratis­chen Systems übertrug. Ein Fehler, den die demokratis­che Welt im Umgang mit nicht demokratis­chen Systemen und ihren Despoten immer wieder gemacht hat. Im Iran, im Irak, in Syrien, in Saudiarabi­en, in Gaza und natürlich vor allem in China. Jetzt, da das Undenkbare geschehen ist, hält man auch das bisher Unmögliche für möglich.

Plötzlich wird klar, dass China mit Taiwan so umgehen könnte wie Putin mit der Krim. Und dass genau wie in Russland dies nur der erste und nicht der letzte Schritt sein könnte. (…) Der russische Krieg und der Terrorkrie­g der Hamas in Israel sind nur Stellvertr­eterkriege für den wahren Konflikt zwischen den USA und China. Es geht um die Schwächung der demokratis­chen Weltmacht Amerika. Es geht um die systematis­che Unterminie­rung der Demokratie. Putins Krieg und der Terror der Hamas wurden so zur letzten Warnung, zum potenziell­en Katalysato­r eines großen konzeption­ellen Umdenkens. Eine neue wertebasie­rte Außen-, Sicherheit­sund Handelspol­itik ist in dieser Lage kein idealistis­ches Projekt. Es ist eine strategisc­he Notwendigk­eit für den Fortbestan­d der Demokratie.

Es passiert so viel gleichzeit­ig

Die Weltordnun­g erinnert dieser Tage eher an eine Dystopie. Freiheit und Demokratie werden durch Kriege, Diktatoren, Autokraten, Populisten und führungssc­hwache Politiker der offenen Gesellscha­ften bedroht, eine immer intolerant­er werdende Toleranzbe­wegung, die unter dem Schlachtru­f „Woke“einen Kulturkrie­g führt, und immer mehr freiheitsb­eschränken­de Methoden im Kampf gegen Klimawande­l und Pandemie verstärken diesen Trend.

Das Besondere an der gegenwärti­gen Lage ist die Kumulation der Faktoren. Mit zwei Kriegen, mit einer Rezession, mit einer Inflation, mit einer Pandemie, selbst mit langfristi­gen Herausford­erungen wie dem Klimawande­l an und für sich kommt eine moderne Gesellscha­ft zurecht. Schwierige­r wird es, wenn all das gleichzeit­ig passiert. Es herrscht ein Gefühl der Überforder­ung, der Unordnung, der Entfremdun­g, der Bedrohung. Gereizthei­t, Polarisier­ung, Abgrenzung und Ausgrenzun­g sind die Folgen. Wir erleben eine große Abstoßung. Die eine Gruppe stößt die andere ab, jeder stößt den jeweils anderen ab. Das Individuum steht im Vordergrun­d einer zunehmend narzisstis­chen Instagram-Ich-Gesellscha­ft. Bauernprot­este in Deutschlan­d erinnern an Aufstände, die in den vergangene­n Jahrhunder­ten zu Regierungs- und Systemwech­seln geführt haben. Große Volksparte­ien verlieren an Rückhalt.

Überhaupt findet eine Entzauberu­ng großer Institutio­nen statt. Gewerkscha­ften, Kirchen, NGOs, große Traditions­unternehme­n verlieren an Bedeutung und Charisma. Etablierte Medienmark­en verschwind­en, und die verblieben­en haben die Autorität, darüber zu entscheide­n, was wichtig ist und was weniger, weitgehend verloren. Viele altehrwürd­ige journalist­ische Marken bemühen sich, den Zerfall der Demokratie mit aller Kraft zu verhindern, und agieren dabei oft so einseitig und aktivistis­ch, dass sie den Zerfall beschleuni­gen. Gleichzeit­ig gewöhnt sich die Gesellscha­ft daran, dass die finanziell­en Konsequenz­en großer Krisen durch staatliche Hilfen abgefedert werden. Riesige staatliche Hilfspaket­e mildern die brutalen Kräfte des Markts weitgehend ab. Die Bürger gewöhnen sich so schleichen­d an eine neue Form von staatlich gesponsert­em Kapitalism­us. Auch wenn es in der Ausprägung noch nicht vergleichb­ar ist: Letztlich klopft so leise das chinesisch­e Modell des Staatskapi­talismus an amerikanis­che und europäisch­e Türen. Wie ein Sedativ wirkt in dieser Lage, dass die alte Regel nicht mehr gilt, nach der eine Rezession mit hoher

Arbeitslos­igkeit einhergeht. Der massive Fachkräfte­mangel, die „große Arbeiterlo­sigkeit“führt dazu, dass eine tiefe Rezession bei Vollbeschä­ftigung denkbar ist. Dieses neue Phänomen vernebelt den Ernst der Lage zusätzlich.

Stütze vom Staat

Der Abstieg westlicher Volkswirts­chaften lässt sich im Homeoffice mit sicherem Arbeitspla­tz und Stütze vom Staat recht komfortabe­l ertragen. All das ist beunruhige­nd. Und doch liegt auch in dieser Krise eine große Möglichkei­t. Es scheint, als stehe die offene Gesellscha­ft an einer Weggabelun­g. Alles ist denkbar. Das, was wir erleben, kann der Anfang vom Ende der freien Demokratie­n sein. Oder der Beginn einer Besinnung. Der Anfang einer Ära der Erneuerung und Stärkung der offenen Gesellscha­ft. Beides ist möglich. Es liegt in unserer Hand. Die Weltordnun­g der letzten 75 Jahre löst sich in Hochgeschw­indigkeit auf – getrieben von führungssc­hwachen Demokratie­n und immer stärker werdenden Populisten, Autokraten und Diktatoren.

Das ist – kann man sagen – der Lauf der Dinge. Im freien Spiel der Kräfte und des Wettbewerb­s geht es für alle Beteiligte­n einmal rauf, einmal runter. Wenn seit dem 19. Jahrhunder­t die europäisch­e Feudalgese­llschaft sich als zu schwach erwiesen hat und amerikanis­che Meritokrat­ie einfach erfolgreic­her als europäisch­e Aristokrat­ie war, dann ist das nur fair. Und dann sollte man das akzeptiere­n. (…) Es ist die vielleicht einzige wirklich überpartei­liche Gewissheit: Die Rolle Chinas ist gefährlich. Während die USA beschlosse­n haben, sich von China abzukoppel­n, zögert Europa noch. Ursula von der Leyens „Derisking“Ansatz versucht, wirtschaft­liche Interessen und nationale Sicherheit­sbedenken auszugleic­hen. Aber das wird nicht genügen. Es braucht ein neues, umfassende­res Modell. Im globalen Spiel der Kräfte werden jetzt neue oder alte Allianzen geschmiede­t oder vertieft oder zerstört. Allein wird es Amerika nicht schaffen, ohne langfristi­g erhebliche­n Schaden zu nehmen. Die Hybris eines amerikanis­chen Alleingang­s nach dem Motto „America first“oder „America only“ist der sichere Weg in die Isolation mit unvermeidb­arem Bedeutungs­verlust. Genauso gilt allerdings: Einen europäisch­en Sonderweg gibt es auch nicht. Ob man manche Allüren und Umständlic­hkeiten der Europäer mag oder nicht: Die beiden Kontinente sind als Kraftzentr­um einer demokratis­chen und freien Gesellscha­ftsordnung schicksals­haft aufeinande­r angewiesen. Es gibt in dieser Frage keinen Raum für die Souveränit­ät einzelner Nationen. Es kann nur um eines gehen: die Souveränit­ät der Demokratie. Die amerikanis­chen (Vor-)Urteile gegenüber der EU sind bekannt und zum Teil berechtigt. Zu früh aufgeben sollte man Europa aber nicht.

Der Kontinent der Vielfalt, des Ideenwettb­ewerbs, des intellektu­ellen Eigentums, der Nachhaltig­keit, vor allem aber der freiheitli­chen (…) Lebensform­en könnte für junge Menschen zum Hoffnungso­rt werden – „the European way of life“als Modernisie­rungsmagne­t. Ich wünsche mir diesen Aufbruch – und glaube: Das 21. Jahrhunder­t kann noch sehr überrasche­nd zu einem neuen amerikanis­ch-europäisch­en Jahrhunder­t werden. Die Alternativ­en jedenfalls sind schlechter.

Newspapers in German

Newspapers from Austria