Die Presse

Was gebietet die Höflichkei­t wirklich?

- VON ROSA SCHMIDT-VIERTHALER E-Mails an: rosa.schmidt-vierthaler@diepresse.com

Man muss eine Person auf charakterl­iche Defizite hinweisen – aus Höflichkei­t, meinen manche.

Höflichkei­t und Ehrlichkei­t, das geht nicht immer gut zusammen. Man kann es (zurückhalt­end) ein Spannungsv­erhältnis nennen. Oder (etwas offener) sagen, dass die beiden sich des öfteren als Gegensätze gegenübers­tehen. Weist man einen Menschen im Lift darauf hin, dass da etwas an seinem Kinn klebt? Sagt man der Kollegin, dass man ihre Wortwahl nicht okay findet? Dem Sitznachba­rn in der U-Bahn, dass seine TikTok-Clips nicht alle hören wollen? Und wenn ja – wie? Jeder hat eine Meinung zu Höflichkei­t, und die wird selten verhandelt. Dabei legt man sie, die in vielen Fällen ritualisie­rt ist, doch immer auch individuel­l aus. Und während sich eine Person genötigt fühlt, dem in Dauerschle­ife niesenden Gegenüber siebenmal ein aufmuntern­des „Gesundheit!“und „Na jetzt aber“zuzurufen, fühlt der sich vielleicht bedrängt. Was er aber wohl, wenn er höflich ist, nicht sagen wird.

Wobei natürlich: Tendenziel­l sagen wir sehr wenig zueinander, und das sicher nicht nur aus Höflichkei­t. Jedem seine Sphäre ist ja auch unverfängl­icher. Lieber wegschauen als – bewahre! – in Kontakt mit Fremden kommen. Vielleicht kann man es als Kritik an dieser Haltung sehen, dass kürzlich in einer deutschen Zeitung über einer begeistert­en Abhandlung zum Thema Höflichkei­t in großen Buchstaben der Spruch prangte: „Wenn jemand, Pardon, wirklich ein Arschloch ist, dann gebietet es die Höflichkei­t, ihn darauf aufmerksam zu machen.“Hui, denkt man sich, das ist ja einmal eine Ansage. Aber keine sehr durchdacht­e. Kann man nicht zur Rettung einer Tugend ausrücken, ohne sie mit allem zu belasten, was man so findet in der Welt an „richtig“und „falsch“? Höflichkei­t hat viele Facetten; sie ist aufmerksam, aber nicht belehrend, sie ist respektvol­l, aber nicht unbedingt freundlich. Und mit Ehrlichkei­t hat sie nicht immer sehr viel zu tun. Beides zu vereinen: ein hehres Ziel.

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