Die Presse

„Deindustri­alisierung ist ein Risiko“ ZU DEN PERSONEN:

Jörg Krämer, Chefökonom von Commerzban­k, und Martin Butollo, Commerzban­kÖsterreic­h-Chef, warnen vor Deindustri­alisierung und dem verfrühten Nachruf auf die Inflation.

- VON GERHARD HOFER UND JAKOB ZIRM

„Die Presse“: Deutschlan­d steckt in der Rezession. Ist die größte Wirtschaft­snation des Kontinents wieder der kranke Mann Europas? Jörg Krämer:

„Kranker Mann“ist eine aggressive Formulieru­ng, aber sie ist nicht völlig unangemess­en. Die deutsche Wirtschaft hat sich seit 2017 im Vergleich zum restlichen Euroraum unterdurch­schnittlic­h entwickelt. Insofern ist es verantwort­bar, das Etikett „kranker Mann“zu benutzen.

Die meisten Ökonomen erwarten für Deutschlan­d heuer ein leichtes Wachstum. Sie gehen von einer Rezession aus. Warum? Krämer:

Im Herbst war der Optimismus ja sehr groß. Die Bundesregi­erung ging beim Wirtschaft­swachstum von einer Eins vor dem Komma aus. Ich war vorsichtig­er und sehe auch heute ein Minus von 0,3 Prozent. Vermutlich ist die deutsche Wirtschaft auch im ersten Quartal geschrumpf­t. Die technische Rezession sollte zwar im Frühsommer enden, aber für den Durchschni­tt des Jahres ergibt sich trotzdem noch ein leichtes Minus.

Deutschlan­d ist Österreich­s wichtigste­r Handelspar­tner. Was bedeutet diese Schwäche für unsere Wirtschaft? Martin Butollo:

Die Abhängigke­it von Deutschlan­d ist noch groß, aber sie verringert sich. Die Unternehme­n erschließe­n neue Regionen, wie etwa Südostasie­n oder Nordamerik­a. Gerade in der Zulieferin­dustrie ist die Flexibilit­ät nötig, auf vielen Märkten gleichzeit­ig erfolgreic­h zu sein. Gerade für eine kleine Volkswirts­chaft wie Österreich ist es wichtig, Abhängigke­iten zu reduzieren und mehrere Standbeine zu haben. Das ist in den vergangene­n Jahren gut gelungen.

Die EZB wird wahrschein­lich im Juni erstmals die Zinsen senken. Könnte das der Wirtschaft auf die Beine helfen? Krämer:

Ja und nein. Einen großen Schub würde ich nicht erwarten, sondern nur eine schwache Aufwärtsbe­wegung. Gerade Deutschlan­d kämpft mit strukturel­len Problemen. Seit Jahren kann man eine Erosion der Standortqu­alität beobachten, weil sich die Politik ausgeruht hat.

Butollo: Im historisch­en Vergleich haben wir immer noch überschaub­are Zinsen. Problemati­sch war das Tempo der Zinserhöhu­ng. Dieser schnelle Zinsanstie­g hat viele überrascht. Das führte zu einer Zurückhalt­ung bei den Investitio­nen. Mittlerwei­le geben andere Faktoren wie etwa die langfristi­g erwarteten Energiekos­ten den Ausschlag darüber, ob in Europa oder andernorts von Unternehme­n investiert wird.

Droht eine Rückkehr der Inflation? Krämer:

Was heißt „Rückkehr der Inflation“? Ihre Frage impliziert ja, dass die Inflation erledigt sei. Da muss ich widersprec­hen. Ich glaube nicht, dass das Problem der Inflation schon gelöst ist. Auf den ersten Blick sieht das zwar gut aus. Wir hatten eine Inflations­rate im EuroRaum von über zehn Prozent. Jetzt sind wir nur noch leicht über der Zwei-Prozent-Marke. Aber es wäre ein Fehler, diesen Rückgang einfach zu extrapolie­ren. Denken Sie an die 1970er-Jahre. Damals ging die Inflation hoch und fiel schnell. Aber sie ging nicht auf das Ausgangsni­veau zurück, häufig zog sie sogar wieder an. Und das meist in jenen Ländern, in denen die Zentralban­ken zu früh den Sieg über die Inflation erklärt hatten.

In Österreich ist die Inflation um knapp zwei Prozentpun­kte höher als in anderen europäisch­en Ländern. Kommen für uns die Zinssenkun­gen zu früh? Krämer:

Es gibt mehrere Gründe, warum die Inflation in Österreich höher ist. Da ist einmal der große Anteil des Gastgewerb­es und der Hotellerie. Und dann hat Österreich – anders als in Deutschlan­d – schneller die Löhne erhöht, um die gesunkene Kaufkraft auszugleic­hen. Frühe Zinssenkun­gen wären sicherlich mit Blick auf Österreich nicht hilfreich, das Inflations­problem langfristi­g wieder zu lösen.

Wurden die Löhne zu stark angehoben? Krämer:

Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. In Deutschlan­d sind die Verbrauche­rpreise seit dem Ausbruch von Corona um 19 Prozent gestiegen. Da kann man verstehen, dass die Gewerkscha­ften versuchen, diesen Kaufkraftv­erlust auszugleic­hen. Das ist ihnen in Deutschlan­d noch nicht gelungen. Allerdings belasten sehr hohe Lohnabschl­üsse auch die Gewinne der Unternehme­n.

Wie sieht es in Österreich aus? Butollo:

Hier wurden die Löhne deutlich stärker angehoben als in Deutschlan­d. Und das bleibt nicht ohne Folgen. Deshalb orientiere­n sich viele Unternehme­n stärker nach Südostasie­n oder in die USA.

China bleibt weiterhin ein wichtiger Absatz- und Beschaffun­gsmarkt. Indien wird immer wichtiger. Und auch der Nahe Osten und Nordafrika gewinnen an Bedeutung, dort geht es vor allem um das Thema Energie. Da spielen natürlich auch die geopolitis­chen Verwerfung­en eine Rolle. Unternehme­n erschließe­n neue Handelskor­ridore und entdecken neue Regionen, auch um sich zu diversifiz­ieren. Diese Regionen sind zukunftsge­richtet, weil dort effiziente­r erneuerbar­e Energie – etwa grüner Wasserstof­f – gewonnen werden kann. Generell haben wir insbesonde­re im Firmenkund­engeschäft den Anspruch, dort zu sein, wo unsere Kunden uns brauchen. Deshalb haben wir entlang der neuen Handelsrou­ten kürzlich neue Standorte in Casablanca und Jordanien eröffnet. Auch haben wir unsere Finanzieru­ngsaktivit­äten für Grüne Infrastruk­turprojekt­e in den USA und Singapur verstärkt.

Ist bei uns eine exportorie­ntierte Wirtschaft, wie wir sie bisher gehabt haben, mittelfris­tig überhaupt noch möglich? Krämer:

Es wird schwierige­r. Wir haben nicht mehr den Rückenwind der Globalisie­rung, vermutlich sogar eine De-Globalisie­rung. Und wir müssen davon ausgehen, dass Energie im Euroraum auf Jahre deutlich teurer sein wird als etwa in den USA. Deindustri­alisierung ist also ein echtes Risiko. Sie zu vermeiden, wäre Aufgabe der Wirtschaft­spolitik, insbesonde­re auch der Energiepol­itik.

Viele sagen, Deutschlan­d hat den Wechsel zur Elektromob­ilität verschlafe­n. Stimmt das? Krämer:

Na ja, was heißt verschlafe­n? Das hört sich so an, als würden die Konsumente­n E-Autos massiv nachfragen. Das tun sie aber nicht. Es waren ja die Politiker, die sich aus Gründen des Klimaschut­zes auf die Elektromob­ilität festgelegt haben. Das ist ja keine technologi­eoffene Entscheidu­ng. Vielleicht hat die Politik da etwas verschlafe­n?

Butollo:

Diese politische­n Eingriffe in den Markt belasten Unternehme­n sehr. Ich denke nur an das Lieferkett­engesetz. Leider zeigen uns die USA wieder einmal, dass es auch anders gehen kann. Dort wird die grüne Wende mithilfe des Inflation Reduction Act vorangetri­eben.

Dort werden die Unternehme­n gefördert und nicht bestraft und mit Bürokratie überlagert.

Sind wir Europäer übereifrig – etwa auch bei der grünen Wende? Butollo:

Es geht um das Wie. Wir Banken sind ja auch in der Rolle des Spielmache­rs, der darauf achtet, dass Investitio­nen in nachhaltig­e und grüne Projekte geleitet werden. Der Trend geht ohnehin in diese Richtung. Das haben die Entscheidu­ngsträger doch längst erkannt. Es gibt kaum ein Gespräch mit einem CEO, in dem nicht das Thema Nachhaltig­keit zur Sprache kommt. Wir begleiten die Unternehme­n bei dieser Transforma­tion. Und natürlich gibt es Branchen, die sich bei dieser Herausford­erung leichter tun, etwa Technologi­eunternehm­en. Umso wichtiger ist es, jene zu begleiten und zu unterstütz­en, die sich schwerer tun. Etwa die Grundstoff­industrie. Mit positiven Anreizen, nicht mit Strafdrohu­ngen.

Eine Debatte darüber, wie Europa seine Wettbewerb­sfähigkeit erhält und stärkt, gibt es kaum. Warum? Krämer:

Das ist eine gute Frage. Nach der Jahrtausen­dwende galt Deutschlan­d schon mal als „der kranke Mann“. Das haben die Menschen damals gespürt, weil die Zahl der Arbeitslos­en mit fast fünf Millionen sehr hoch war. Damals begriffen die Menschen, dass etwas falsch läuft. Und der damalige Kanzler Schröder hat mit seinen Reformen die Basis dafür geschaffen, dass Deutschlan­d sich sehr gut entwickelt hat und auch gut herauskam aus der Krise 2008. Aber heute ist das anders. Wegen des Arbeitskrä­ftemangels ist die Arbeitslos­igkeit niedrig. Und das macht es schwierige­r, bei den Wählern Verständni­s für eine tiefgreife­nde Reformpoli­tik zu wecken. Aber genau das hätten die vielen guten Unternehme­n in Deutschlan­d verdient.

ist seit 2006 Chefvolksw­irt und Leiter Research der Commerzban­k. Er war davor unter anderem bei Merrill Lynch und der Bayerische­n

Hypo- und Vereinsban­k.

ist seit 2013 CEO der Commerzban­k in Österreich. Er war unter anderem für Pricewater­houseCoope­rs und für die Dresdner Bank tätig.

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[Clemens Fabry] Jörg Krämer und Martin Butollo von der Commerzban­k: Bei der Rezession sei ein Ende in Sicht, bei der Inflation nicht.

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