Die Presse

So verliert Schostakow­itschs Regimekrit­ik ihre Brisanz

Das Philharmon­ia Orchestra aus London unter seinem Chefdirige­nten Santtu-Matias Rouvali am Ende einer Europatour­nee.

- VON MARION EIGL

Nach dem Gastspiel der Göteborger Symphonike­r im vergangene­n November las man an dieser Stelle von den geschmeidi­g fließenden Bewegungen, den prägnanten Impulsen aus dem Handgelenk und den sprechende­n Fingern des Dirigenten Santtu-Matias Rouvali. Die damals empfundene Strahlkraf­t wirkte beim jüngsten Auftritt weit weniger fesselnd. Das Philharmon­ia Orchestra – der zweite Klangkörpe­r, dessen Chefdirige­nt der Finne ist – beendete seine Europatour im Wiener Musikverei­n. Vielleicht hatten die vorangegan­genen Termine samt den dazugehöri­gen Reisen schlicht Spuren hinterlass­en.

Ein Hauch von Routine

Ein Hauch von routiniert­er Abgestumpf­theit ließ sich feststelle­n, was die technische und klangliche Präzision des traditions­reichen Londoner Orchesters jedoch keineswegs beeinträch­tigte: souveräne Holzbläser, sehr gute Kontrabäss­e, ein kompakter Gesamtklan­g. Und doch kam beim Beobachten der Musizieren­den immer wieder der Gedanke auf, dass hier ein Orchester halt einen weiteren

Termin absolviert. Geige anlegen, Lächeln aufsetzen und los. Ergebnis: Die Noten tadellos wiedergege­ben, die Musik aber nicht wirklich durchdrung­en, dem Subtext nicht restlos auf den Grund gegangen.

Dergleiche­n kommt vor. Schostakow­itschs Zehnte, komponiert in Stalins Todesjahr, hinterließ an diesem Abend nach einer Stunde auskomponi­erten schweren Ringens und düsterer Abrechnung mit dem Terrorregi­me kaum Betroffenh­eit oder Erschütter­ung. Mit markanten Akzenten führte Rouvali durch die vier Sätze. Atmosphäri­sch schön gelang das Ende des dritten Satzes, dass er mit den Händen anschaulic­h in die Breite zog. Danach kamen tatsächlic­h noch zwei Zugaben, darunter Sibelius’ „Valse triste“.

Leidenscha­ftliches Musizieren bot die erste Konzerthäl­fte: Voller Verve stürzte sich Rudolf Buchbinder in alle Herausford­erungen, die Beethovens Fünftes Klavierkon­zert in Es-Dur, op. 73, bietet. Der Pianist zauberte schimmernd­e Diskanttön­e und perlende Läufe aus dem Flügel. Es klang, als öffnete sich plötzlich die begehrte Schmucksch­atulle. Als Zugabe präsentier­te Buchbinder das Finale aus Beethovens „Sturm-Sonate“.

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