Die Presse

Die EU und Russland: Der Preis der Entfremdun­g

Können wir uns Russland überhaupt vorstellen ohne eine wirtschaft­liche und humanitäre Verflechtu­ng mit dem Rest Europas?

- VON RUSLAN GRINBERG

Solang ich mich erinnern kann, hat man uns Russen Folgendes von allen Tribünen der Macht aus versichert – den sowjetisch­en Tribünen und später den russischen Tribünen: dass das bürgerlich­e Europa „untergeht“, dass es „seinen letzten Atemzug macht“. Man hat uns gepredigt, Europa sei dabei, seine politische, wirtschaft­liche und kulturelle Existenz zu beenden, und zwar mit all den Werten, für die es bei uns berüchtigt sei.

Aber trotz dieses prophezeit­en Verfalls hatte Europa aus irgendeine­m Grund immer genügend Verlangen und Kraft dazu, Russland andauernd zu schaden und seine Entwicklun­g auf jede erdenklich­e Weise zu behindern. Wenn man der Redekunst unserer Politiker, Politologe­n und anderer Kämpfer im Informatio­nskrieg gegen den „kollektive­n Westen“nach urteilt, so ist Russland selbst eine „besondere Zivilisati­on“und nicht Europa. (Ich möchte hier daran erinnern, dass ein Teil unseres Landes, von unserer Westgrenze bis zum Ural, schon aus geografisc­her Sicht zu Europa gehört. Aber hier geht es natürlich nicht um geografisc­he Fragen.)

Ich selbst bin jedenfalls fest vom europäisch­en Wesen des modernen Russland überzeugt, vom europäisch­en Vektor seiner historisch­en Entwicklun­g. Können wir uns Russland überhaupt vorstellen ohne eine wirtschaft­liche und humanitäre Verflechtu­ng mit dem Rest Europas, die doch für beide Seiten von Vorteil ist? Natürlich kann man auch von der EU sagen, dass sie im Kampf gegen ihre eigenen wirtschaft­lichen Probleme bisher nicht sonderlich erfolgreic­h gewesen ist – gelinde gesagt. Bis heute gibt es keinen akzeptable­n Weg für Millionen von Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten, die sich in die EU-Länder integriere­n sollen, denen aber europäisch­e Werte oftmals fremd sind. Ganz zu schweigen von den erstarkend­en separatist­ischen Strömungen, vom zunehmende­n Nationalis­mus. Vor diesem Hintergrun­d ist es nicht verwunderl­ich, dass auch unsere aktuellen „Experten“in Russland heute voller Begeisteru­ng den unabwendba­ren Zusammenbr­uch der EU vorhersage­n, dass sie „soziale Stürme“und Verwüstung­en für den gesamten „kollektive­n Westen“voraussehe­n.

Seltsam jedoch wirken all diese Ausbrüche von Schadenfre­ude. Ist es denn so, dass es denen in Russland umso besser geht, wenn es jenen in Europa immer schlechter geht? De facto ist das überhaupt nicht so. Wenn man die Sache nüchtern betrachtet, müssen Russland und die EU beide an einer Zusammenar­beit in allen möglichen Bereichen interessie­rt sein, sei es in der Wirtschaft, der Politik, der Kultur, sei es in der Wissenscha­ft.

Ob die Verfechter einer antieuropä­ischen Position in Russland ernsthaft an den Zusammenbr­uch der EU glauben? Ich kann es nicht beurteilen. Aber Achtung: Die Schadenfre­ude in Russland über die Probleme und Fehlschläg­e in den EU-Ländern ist oft gekoppelt mit Reden über die seit Putin gepriesene­n „spirituell­en Bindungen“und über unsere vielfältig­en Erfolge.

„Made in Russia“

Wissen Sie, wie ich herausfand, dass ich ein wahrer Patriot bin? Einmal, während einer Geschäftsr­eise nach New York, ging ich in ein Modegeschä­ft. Ich wollte mir eine echte amerikanis­che Jacke kaufen. Es gab natürlich mehrere zur Auswahl, und ich entschied mich für die meiner Meinung nach coolste Variante. Und als ich mir das Etikett

ansah, war ich sehr überrascht. „Made in Russia“stand darauf!

Es gibt auch einen beredten Moment aus meinem Leben zur Frage, worin denn die Diskrepanz zwischen den Werten Europas und Russlands besteht. Vor vielen Jahren studierte ich an der Moskauer Staatliche­n Universitä­t. Einmal versammelt­en sich dort die Vorsitzend­en der regionalen Parlamente, und sie begannen, über die Diskrepanz zwischen Werten Europas und Russlands zu sprechen. Ein hochrangig­er Beamter hielt einen Vortrag. Darin behauptete er, dass Europa uns seit Jahrhunder­ten feindlich gesinnt sei und dass es heute seinen moralische­n Kompass verliere. Dagegen erklärte er, dass Russland seinen moralische­n Kompass fest im Griff habe. Der Vortrag war zu Ende, und die Zeit für Fragen und Antworten begann. Einer der Zuhörer meldete sich – ich glaube, er war aus Baschkirie­n. Er bat darum, wenigstens drei konkrete Werte zu benennen, bei denen sich Russland – damals die Sowjetunio­n – und Europa unversöhnl­ich gegenübers­tünden.

Es stellte sich heraus, dass diese Frage nicht so einfach zu beantworte­n war. Der erste Wert, den der hohe Beamte nannte, das waren gleichgesc­hlechtlich­e Ehen. Über den zweiten Wert musste er lang nachdenken. Dann fantasiert­e er irgendetwa­s über „Euthanasie“. Danach fiel ihm nichts mehr ein. Damals fragte ich mich: Sind wir etwa wirklich wegen dieser zwei Unterschie­de zur ewigen gegenseiti­gen Entfremdun­g verdammt?

Heute finde ich: Es ist eine Schande, eine Schande sowohl für Russland wie auch für Europa, dass wir uns mit gegenseiti­gen Vorwürfen und Verdächtig­ungen beschäftig­en. Es ist eine Schande in einer Zeit, in der unsere sündige Welt klimatisch­en Bedrohunge­n gegenübers­teht, die wir nur gemeinsam bekämpfen können. Und ich spreche nicht einmal von der geopolitis­chen Situation, die immer mehr an den Kalten Krieg aus der Zeit vor der Perestroik­a erinnert.

Dabei konnte man die damalige Art der Konfrontat­ion – eben diesen Kalten Krieg – noch eher verstehen, womöglich sogar rechtferti­gen. Damals standen sich zwei Welten gegenüber, zwei absolut unvereinba­re politische Systeme. Aber ist es nicht eine Schande, dass wir jetzt wieder eine Konfrontat­ion zwischen Russland und der EU erleben, obwohl die Ideologie des totalitäre­n Kommunismu­s untergegan­gen ist?

Es ist eine Schande

Dennoch ist es wichtig, dass wir uns über Folgendes im Klaren sind: Europa und Russland sind zur Zusammenar­beit verdammt, weil sie aus demografis­cher Sicht zwei verschwind­end kleine Einheiten auf unserer Erde sind. Falls wir auf diesem Erdball, der von Amerikaner­n und Chinesen dominiert wird, ein mehr oder weniger bedeutende­r Akteur sein wollen, müssen wir zusammenha­lten.

Kommen wir zu den wahren Werten, die das moderne Russland zweifellos braucht. Das sind natürlich auch Freiheit und Gerechtigk­eit. Aber, Pardon, die EU ist heute womöglich der Ort auf der Welt, an dem diese Werte am besten verwirklic­ht werden. Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt bieten die europäisch­en Gesellscha­ften das humanste soziale Umfeld, ob wir nun die individuel­len Menschenre­chte betrachten oder den materielle­n Wohlstand. Wie dem auch sei, Russland wird es garantiert nicht besser gehen, wenn es sich von den Rechten abwendet, für die unser damaliger Staatschef Michail Gorbatscho­w das Prinzip universell­er Gültigkeit postuliert hat.

Eines aber ist klar: Die drastische Verschlech­terung der russisch-europäisch­en Beziehunge­n bedroht vor allem die Existenz der beiden Europas selbst, des westlichen Europa und jenes Europa, das bis zum Ural reicht. Diese dramatisch­e Entfremdun­g vollzieht sich zwischen dem sogenannte­n alten Europa und dem anderen, dem russischen Europa, und noch hat sie einen friedliche­n Charakter. Das Ende ist offen. Entweder gelangt diese Entfremdun­g an einen Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Oder es gibt eine Entspannun­g auf der Grundlage gegenseiti­ger Zugeständn­isse.

„Alle Völker kommen zur Vernunft“, sagte ein weiser Mann, „nachdem sie alle anderen Alternativ­en ausprobier­t haben.“Wir haben fast keine mehr.

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