Die Presse

Im letzten Moment in U-Bahn: Geld nach Unfall

Ein Mann wurde zwischen U-Bahn-Türen verletzt. Der Fahrer hatte die Warnung vergessen, nicht mehr einzusteig­en. Die Wiener Linien gaben dem Fahrgast die Schuld. Doch der OGH nimmt die Verkehrsbe­triebe in die Pflicht.

- VON PHILIPP AICHINGER

„Einsteigen, bitte!“, hatte der U-Bahn-Fahrer noch verlautbar­t, um zu zeigen, dass es bald losgeht. Der Satz „Steigen Sie nicht mehr ein!“fiel aber nicht. Der Fahrer verabsäumt­e es, die Fußtaste, mit der das Abspielen des warnenden Tonbands ausgelöst wird, zu betätigen. Und ein Mann war – wie im Wiener U-BahnAlltag regelmäßig zu beobachten – noch im letzten Moment in den Waggon gestiegen. Dann funktionie­rte auch noch der in die Türen eingebaute Schutzmech­anismus nicht. Der Fahrgast wurde durch die Türen verletzt, und so galt es nun vor Gericht die Frage zu klären: Durfte der Mann noch einsteigen, oder hätte er draußen bleiben müssen?

Der Betroffene hatte eine Jahreskart­e und damit einen Vertrag mit den Wiener Linien. Aus diesem ergeben sich Schutzpfli­chten, und die Verkehrsbe­triebe müssen beweisen, dass sie nichts falsch gemacht haben. Und der Mann ging davon aus, dass die Türen nicht schließen würden, solang er im Türraum steht. Der UBahn-Fahrer hätte ebendies sehen können, er schloss die Türen aber trotzdem. Die akustische­n und optischen Warnsignal­e oberhalb der Tür funktionie­rten, nicht jedoch der eingebaute Einklemmsc­hutz. Als die Tür den Mann traf, öffnete sie sich nicht wieder, sondern drückte ihn ins Wageninner­e.

Körper nach rechts gedreht

Als Reaktion auf die sich schließend­en Türen hatte der Mann seinen Körper nach rechts gedreht und dabei den rechten Arm abgewinkel­t. Er wurde an Arm und Schulter verletzt und verlangte Schadeners­atz. Das Unglück geschah im Jahr 2017 auf der Linie U4 in einer Bahn ohne getrennte Waggons (Typ V genannt).

Der Zug sei aber in der Station schon abgefertig­t gewesen, argumentie­rten die Wiener Linien. Nach ihren Beförderun­gsbedingun­gen und auch laut dem Eisenbahng­esetz habe der Mann daher nicht mehr einsteigen dürfen. Und da der Wagen im Einstiegsb­ereich so voller Hinderniss­e war, hätte der Fahrgast erst recht auf die nächste U-Bahn warten müssen. Der Mann hatte erklärt, dass er den Türbereich nicht verlassen konnte, weil andere Fahrgäste ihm den Weg verstellt hätten.

Das Bezirksger­icht Innere Stadt gab der Klage des Fahrgasts auf rund 14.000 Euro Schadeners­atz statt. Der Mann habe nicht die Beförderun­gsbedingun­gen verletzt. Die Wiener Linien hingegen hätten zu verantwort­en, dass der Einklemmsc­hutz der Türen nicht funktionie­rt habe. Und ebenso, dass der U-Bahn-Fahrer das Tonband vor der Abfahrt nicht eingespiel­t habe.

Auch das Wiener Landesgeri­cht für Zivilrecht­ssachen nahm die Wiener Linien in die Pflicht. Es dürfe nicht passieren, dass die Tür eines öffentlich­en Verkehrsmi­ttels sich schließe, während ein Fahrgast einsteigt. Ein Mitverschu­lden könne man dem Mann nicht anlasten, weil er in dieser Situation nicht damit rechnen musste, dass sich die Türen schließen. Er habe ein Recht auf seine Forderunge­n (abzüglich von rund tausend Euro zu einem schon verjährten Punkt).

Die Wiener Linien meinten aber, dass nichts passiert wäre, wenn sich der Mann nicht gedreht und dadurch der rechte Türflügel an den Ellenbogen des Mannes angestoßen wäre. Außerdem könne man die bisherige strikte Judikatur zur Haftung bei vollautoma­tisch schließend­en Türen nicht auf diesen Fall umsetzen. Denn in diesem Fall sei der Fahrer für die Schließung der Tür verantwort­lich gewesen.

Das mache aber keinen Unterschie­d, befand der Oberste Gerichtsho­f (OGH). Und „der Einbau funktionie­render sensibler Fühlerkant­en als Schutz vor dem Einklemmen“sei eine „jedenfalls zumutbare Maßnahme“zur Sicherung der Kunden. Ein Fahrgast brauche mit dem Schließen der Tür eines öffentlich­en Verkehrsmi­ttels nicht zu rechnen, „wenn er mit dem Einsteigev­organg begonnen hat“. Und der Mann sei auch definitiv vor Abfertigun­g des Zuges eingestieg­en.

Mitverschu­lden noch zu klären

Damit stehen nun die Zeichen darauf, dass der Verletzte Geld von den Wiener Linien erhält. Die Höchstrich­ter schickten den Fall (2 Ob 232/ 23s) aber noch einmal ans Landesgeri­cht zurück. Denn dieses habe nicht alle für ein etwaiges Mitverschu­lden des Mannes relevanten Feststellu­ngen des Bezirksger­ichts übernommen. Diese Punkte gelte es deswegen noch einmal zu überprüfen. Bleibt es beim bisherigen Stand der Dinge, hat der Mann aber ein Recht auf Schadeners­atz ohne Abzüge. „Nach dem bisher gesichert feststehen­den Sachverhal­t“, so betonte der OGH, wäre dem Verletzten „kein Mitverschu­lden anzulasten“.

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Feature: Getty Images Fahrgäste müssen laut dem Obersten Gerichtsho­f nicht damit rechnen, dass sie beim Einsteigen von Türen getroffen werden.

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