Die Presse

„Putin kann Georgien leicht einnehmen“

Der Autor Leo Vardiashvi­li über die heikle Lage seines Heimatland­es Georgien, entflohene Raubtiere auf den Straßen von Tiflis und seinen Debütroman „Vor einem großen Walde“.

- VON GABRIEL RATH

Die Presse: Hat das, was wir seit mehr als zwei Jahren in der Ukraine erleben, nicht eigentlich schon 2008 in Ihrem Heimatland Georgien begonnen, als Russland einen Angriff startete, der bis vor die Tore der Hauptstadt Tiflis kam? Leo Vardiashvi­li:

Die Geschichte zwischen Georgien und Russland geht wesentlich länger zurück und ist recht komplizier­t. Aber man kann wohl festhalten, dass 2008 ein Vorzeichen für das war, was später geschehen ist.

Wie geht Georgien heute mit der Situation und den eingefrore­nen Konflikten um die abtrünnige­n Regionen Abchasien und Südossetie­n um? Ist das erneut ein Vorbote, wenn man an den Osten der Ukraine denkt?

Ich glaube, die Menschen haben sich damit abgefunden, dass diese Gebiete nicht zurückkomm­en werden. Es verursacht aber natürlich immer noch Konflikte in Georgien und hat eine destabilis­ierende Wirkung.

Ist Georgien in Gefahr?

Es ist ein souveräner Staat, und wie jeder andere europäisch­e Staat sollte es nicht in Gefahr sein. Aber es gibt ein Element der Bedrohung. Wenn Putin und Russland es wollen, können sie Georgien sehr leicht einnehmen. Sie standen 2008 nur 50 Kilometer von Tiflis entfernt.

Nach einem gescheiter­ten Reformproz­ess unter Mikheil Saakashvil­i wird Georgien seit mehr als zehn Jahren von einem lokalen Oligarchen, Bidzina Ivanishvil­i, kontrollie­rt, der enge Beziehunge­n zum Kreml pflegt. Warum ist die Demokratis­ierung des Landes, die ja ursprüngli­ch vom Volk überwältig­end unterstütz­t wurde, gescheiter­t?

Der Hauptgrund ist die Sowjetunio­n und ihr fürchterli­ches Erbe. Wir hatten mehr als 70 Jahre keine Demokratie, wir hatten bei der Unabhängig­keit keine Strukturen für ein pluralisti­sches politische­s System, und seither versuchen wir, diesen Rückstand aufzuholen. Seit Dezember 2023 haben wir den Status eines EUKandidat­en. Das ist ein massiver Fortschrit­t. Aber ich verbinde das auch mit einer gewissen Sorge: Wie wird Putin darauf reagieren?

Sie haben Georgien als europäisch­es Land bezeichnet, aber geografisc­h befindet sich das Land in Asien. Sie haben nicht nur Russland als Nachbarn im Norden, sondern im Süden grenzt das Land auch an den Iran.

Georgien ist in der Tat in einer heiklen Lage. Russland, mit dem uns die orthodoxe Religion verbindet, sollte eigentlich unser Schutzherr sein, ist es aber nicht. Wir sind ohne Zweifel exponiert am Schnittpun­kt zwischen Europa und

Asien. Das ist nicht der ruhigste Ort, wo man sich niederlass­en und einen Staat gründen konnte.

Dafür verweisen die Georgier stolz auf die Schönheit des Landes und erzählen die Legende, Gott habe zunächst bei der Verteilung der Länder dieser Erde auf sie vergessen und ihnen dann als Entschädig­ung sein eigenes Paradies geschenkt.

Nein, das ist nicht richtig. Gott hat nicht auf die Georgier vergessen. Sie hatten am Abend vor der Verteilung schon gefeiert, zu viel Wein getrunken und daher die Verteilung verschlafe­n. Aus Mitleid schenkte er ihnen dann sein Paradies. Wenn man die Geschichte so erzählt, entspricht sie unserem Charakter viel besser.

Das feurige Temperamen­t kommt auch in Ihrem Buch nicht zu kurz. In einer Szene heißt es: „Wenn zwei Georgier zusammenko­mmen, gibt es immer Streit.“

Ja, aber das muss nicht immer etwas Böses bedeuten. Es ist durchaus üblich, dass zwei Georgier lautstark ihre Meinungen austausche­n, und zwei Minuten später rauchen sie friedlich eine Zigarette miteinande­r. Streit muss bei uns nicht immer ernst sein.

Georgien hat seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs rund 120.000 Russen aufgenomme­n, die vorwiegend dem PutinRegim­e und der Einberufun­g entkommen wollten. Das hat aber für große Spannungen gesorgt, und viele Russen fühlen sich in Georgien diskrimini­ert und unerwünsch­t. Mehr als ein Drittel hat Georgien wieder verlassen. Ein Satz, der sich durch Ihr Buch zieht, lautet: „Ein Gast ist ein Geschenk von Gott.“Gilt er nicht mehr?

Es ist komplizier­t. Der starke Zuzug hat enorme wirtschaft­liche Folgen gehabt, alle Preise sind förmlich explodiert, und es ist schwierig, gastfreund­lich zu sein, wenn man selbst kaum über die Runden kommt. Dennoch hoffe ich, dass wir unsere traditione­lle Gastfreund­schaft und Toleranz bewahren. Wir haben ein Problem mit Russland, nicht mit den Russen.

Sie und Ihre Familie haben selbst diese Flüchtling­serfahrung gemacht. Sie verließen das Land 1995, als ein Bürgerkrie­g das Land an den Rand des Zusammenbr­uchs gebracht hatte.

Wir versuchten, in den Niederland­en, Deutschlan­d und Frankreich unterzukom­men, bis uns in Paris buchstäbli­ch das Geld ausging. Wir schliefen in Parks und gingen von Tür zu Tür und suchten Hilfe. Schließlic­h kamen wir zu dem Wohnheim eines Klosters, wo man uns ein oder zwei Nächte schlafen ließ und dann das Geld für die Fahrt nach Großbritan­nien gab. Es klingt wie eine erfundene Geschichte, aber genau so war es.

Sie wuchsen im Norden Londons in Tottenham auf, ein berüchtigt hartes Pflaster.

Ich war zwölf Jahre alt, als wir ankamen. Mindestens zwei Jahre lang hasste ich Großbritan­nien. Ich hatte keine Freunde, ich konnte die Sprache nicht, ich mochte das Wetter nicht, ich verabscheu­te das Essen. Mit der Zeit fand ich mich aber zurecht, vor allem weil ich eine große Liebe zur Literatur entwickelt­e.

Und wie war es für Ihre Eltern?

Schwer. Sie waren schon Mitte dreißig und hatten alles verloren. Heute sind sie mehr oder weniger Briten. Sie sind geblieben, und es ist ihre neue Heimat geworden. Das ist etwas, das Großbritan­nien Menschen wie uns schenken konnte.

Saba, die Hauptperso­n Ihres Buchs, trifft auf der Suche nach Vater und Bruder genau in dem Moment ein, als der Tiergarten überflutet wurde und wilde Tiere durch Tiflis ziehen. Das hat sich wirklich zugetragen. Das Bild des Nilpferds in den Straßen ging um die Welt. Das Hochwasser fühlt sich in seiner Urgewalt fast biblisch an.

Ich habe diesen Moment gewählt, weil er mir erlaubte, die Grenzen zwischen wahrer Geschichte und Märchen zu verwischen. Es fiel mir praktisch in den Schoß, denn die Überflutun­g des Tiergarten­s ist tatsächlic­h passiert. Das hätte man sich nicht ausdenken können. So ist Georgien: eine Vermischun­g von Realem und Surrealem.

Ihr Buch kulminiert in einem dramatisch­en und sehr berührende­n Showdown, in dem Mut und Leichtsinn, Selbstüber­schätzung und Großherzig­keit, Genie und Wahnsinn zusammenfa­llen. Können wir das als Metapher verstehen?

Wir sollten uns vor Klischees hüten. Aber ich habe diese Art von Verhalten oft gesehen: „Verdammt, keine Chance, aber wir versuchen es trotzdem.“Und ich liebe die Georgier dafür.

Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Georgien heute beschreibe­n?

Wenn ich in Georgien bin, fühle ich mich nicht 100 Prozent zu Hause. Aber wenn ich in Großbritan­nien bin, fühle ich mich auch nicht 100 Prozent britisch. Es ist seltsam. Also reise ich hin und her zwischen beiden Welten.

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Www.palmerphot­ography.co.uk „Zwei Jahre lang hasste ich Großbritan­nien“: Leo Vardiashvi­li über die Zeit nach seiner Flucht als Kind aus dem georgische­n Bürgerkrie­g.
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Kann Salman Rushdie über ein Trauma schreiben? Und wer ist hinterlist­iger: die Öko-Aktivisten oder der Milliardär? Neue Bücher, von „Knife“bis „Der Wald“. diepresse.com/podcast

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