Die Presse

Das Vermächtni­s des Fräulein Lieser

Helene Lieser war die erste Doktorin der Staatswiss­enschaften. Sie gehörte der Vierten Generation der Österreich­ischen Schule der Nationalök­onomie an.

- VON GEORG VETTER

Das Bild „Fräulein Lieser“ist vergangene­n Mittwoch um 30 Millionen Euro versteiger­t worden. Viel wurde über Klimt, den künstleris­chen Wert und die Provenienz geschriebe­n. Wenig zu lesen war über das Fräulein selbst. Wahrschein­lich, so schließen Experten aus dem Scheitel, den Augen und den

Lippen, dürfte es sich um Helene Lieser handeln – und nicht um die Schwester oder die Cousine. Sie war die Tochter der Mäzenin Lilly Lieser und stammte aus wohlhabend­en Verhältnis­sen.

Helene Lieser lebte von 1898 bis 1962 und studierte an der Universitä­t Wien. Ihre Dissertati­on „Die währungspo­litische Literatur der österreich­ischen Bankozette­lperiode“betreute der mit ihr verwandte Ludwig von Mises. Lieser war die erste Doktorin der Staatswiss­enschaften. In der Folge besuchte sie das von ihrem Doktorvate­r ins Leben gerufene Privatsemi­nar. Sie gehörte der sogenannte­n Vierten Generation der Österreich­ischen Schule der Nationalök­onomie an. Nach dem Einmarsch 1938 wurde sie vom Verband der Banken und Bankiers aus rassischen Gründen entlassen und von den Nazis eine Woche lang in Haft genommen. Sie ging wie andere Damen der Familie eine Scheinehe ein und emigrierte in die Schweiz. In Genf traf sie wieder auf Mises, der gerade sein Hauptwerk „Nationalök­onomie – Theorie des Handelns und Wirtschaft­ens“fertigstel­lte. Sie half ihm beim Lesen der Korrekture­n.

Die Österreich­ische Schule der Nationalök­onomie sieht sich in der Tradition der schottisch-englisch-amerikanis­chen Aufklärung. Sie sticht durch nüchternen Realismus, intellektu­elle Bescheiden­heit und eine antitotali­täre Grundeinst­ellung hervor. Bedeutende Vertreter waren Carl Menger, Eugen Böhm von Bawerk, Friedrich von Wieser, Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek. Im Ausland bezeichnet man diese Ökonomen anerkennen­d als die Austrians.

Helenes Lehrer Ludwig von Mises war einer der klarsten Denker und kompromiss­losesten Vertreter der Marktwirts­chaft. Schreibgew­altig wandte er sich gegen „allmächtig­e Regierunge­n“und „die antikapita­listische Mentalität“.

Helenes Altersgeno­sse Friedrich August von Hayek setzte das Werk von Mises in ähnlich brillanter Form fort. Seine Bücher „Der Weg zur Knechtscha­ft“oder „Die Verfassung der Freiheit“sind Meilenstei­ne einer auf Freiheit, Unternehme­rtum und Selbstvera­ntwortung fußenden Ökonomik. Seinem Brief an Fritz Machlup vom April 1938 verdanken wir das Wissen über das Schicksal vieler Austrians – nicht nur von „Lene“Lieser – in den schweren Tagen nach dem Anschluss.

Helene Lieser übersiedel­te 1948 nach Paris, wo sie bei mehreren internatio­nalen Organisati­onen arbeitete und zahlreiche Kongresse organisier­te. Sie ging 1962 in Pension und erlag kurz danach einem Krebsleide­n. Ein Platz im Wiener Bezirk Liesing ist nach ihr benannt.

In einigen Monaten stehen Wahlen zum Nationalra­t an. Die Zeichen stehen auf Krise, Überschuld­ung, Eigentumsf­eindlichke­it und Etatismus. Würden in dieser Wahlausein­andersetzu­ng die auch von Helene Lieser vertretene­n Ideen der Österreich­ischen Schule der Nationalök­onomie aufgegriff­en und anschließe­nd auch verwirklic­ht werden, könnte ein solches Vermächtni­s jenen Wert um ein Tausendfac­hes übertreffe­n, den ihr Bild bei der Auktion erzielt hat.

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