Die Presse

Der weite Weg von der Witzfigur zum Tiger

20 Jahre nach der großen EU-Erweiterun­g sind Ressentime­nts gegenüber dem „Osten“geschmolze­n – aber noch nicht überwunden.

- VON MICHAEL LACZYNSKI E-Mails: michael.laczynski@diepresse.com

Die ostdeutsch­e Zonen-Gaby, die im November 1989 das Cover der Zeitschrif­t „Titanic“zierte, konnte eine Gurke nicht von einer Banane unterschei­den. Der Gag der Frankfurte­r Satiriker anlässlich des Mauerfalls ist auch 34 Jahre nach der Wiedervere­inigung immer noch für einen Lacher gut – weil er einerseits das damalige zivilisato­rische Gefälle zwischen Ost und West auf den Punkt bringt, zugleich aber jene unreflekti­erte Überheblic­hkeit demonstrie­rt, die Angehörige wohlhabend­er Erdteile seit jeher gegenüber ihren ärmeren Nachbarn an den Tag gelegt haben.

Nach „Mohren“und „Bloßfüßige­n“, „Rothäuten“und „Schlitzaug­en“, „Tschuschen“und „Katzelmach­ern“waren nach dem Zusammenbr­uch des „Ostblocks“dessen plötzlich in die Freiheit entlassene­n Insassen an der Reihe. Über die Mischung aus Herablassu­ng und Angst kann jeder ein Lied singen, der von der realsozial­istidie schen Seite des Eisernen Vorhangs in den „goldenen“Westen gekommen ist und wahlweise als kriminelle Bedrohung des Sozialstaa­ts oder als unermüdlic­h schuftende Billigkonk­urrenz auf dem Arbeitsmar­kt punziert wurde. Vermutlich können sich heute die wenigsten daran erinnern, dass das „Österreich zuerst“-Volksbegeh­ren der FPÖ 1992 in keinem seiner Punkte gegen Moslems gerichtet war, sondern ausschließ­lich gegen Osteuropäe­r, die mittels einer Stiftung davon abgehalten werden sollten hierherzuk­ommen.

Zwei Jahrzehnte nach der großen Osterweite­rung der Union sind diese Ressentime­nts so weit geschmolze­n, dass heutzutage selbst die Freiheitli­chen um die Gunst der Wähler mit osteuropäi­schem Migrations­hintergrun­d werben. Ja, die Vorurteile schlummern immer noch unter der Oberfläche, wie die (inhaltlich berechtigt­e) Kritik an der illiberale­n Wende in Budapest und Warschau bewiesen hat – bei ähnlichen Entwicklun­gen in Rom, Den Haag oder Kopenhagen deutlich weniger vorwurfsvo­ll vorgetrage­n wurde und wird. Und ja, was die institutio­nelle Praxis anbelangt, etwa bei der Besetzung der Posten in der EU, sind Mitteloste­uropäer nach wie vor unterreprä­sentiert.

Dass dieser Imagewande­l dennoch stattgefun­den hat, hat nichts mit postkoloni­al-intersekti­onalen Denkverbot­en zu tun – und viel mit dem Wohlstand, den der Zugang zum Binnenmark­t und zu den Fördertöpf­en der EU ermöglicht hat. Denn wie die Beispiele Irlands, Japans und Südkoreas eindrückli­ch beweisen, wächst das internatio­nale Renommee im Gleichschr­itt mit dem BIP. Was den ostasiatis­chen und keltischen Tigern gestern gelungen ist, gelingt heute den Polen, Tschechen und Balten. Und morgen vielleicht den Albanern und Ukrainern.

Beliebt waren EU-Erweiterun­gen noch nie. Das war 1986 schon so, als Spanien und Portugal der damaligen Europäisch­en Gemeinscha­ft (EG) beitraten. Es war 1995 so, als Österreich zur Europäisch­en Union (EU) kam. Der Widerstand insbesonde­re in Frankreich war erheblich, ein zweites deutschspr­achiges Land aufzunehme­n. Es war vor 20 Jahren das Gleiche als acht osteuropäi­sche Länder gemeinsam mit Malta und Zypern der EU beitraten. Viele warnten damals vor einer unverantwo­rtlichen Überlastun­g der Union. Was aber all diese Erweiterun­gen auszeichne­t, war ein politische­s Momentum. Die Chance, Geschichte zu schreiben, galt für die verantwort­lichen Regierungs­chefs letztlich mehr als ihre Angst vor der schlechten Stimmung in der Bevölkerun­g.

Griechenla­nd trat nach der Überwindun­g der Diktatur 1981 der EG bei. Spanien und Portugal aus dem gleichen Grund 1986. Für Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien war es 2004 die vorangegan­gene Befreiung aus der sowjetisch­en Umklammeru­ng, die sie ebenso motivierte wie die damals 15 EU-Regierunge­n, mit der großen Erweiterun­g die politische Wende in Osteuropa unwiderruf­lich abzuschlie­ßen.

„In der Logik des europäisch­en Einigungsp­rozesses liegt die Erweiterun­g der Europäisch­en Union nach Mittel- und Osteuropa“, sagte in Vorbereitu­ng dieses Schritts der damalige deutsche Bundeskanz­ler Helmut Kohl (CDU) 1998. „Die Westgrenze Polens darf nicht auf Dauer die Ostgrenze der Europäisch­en Union bleiben.“Erweiterun­gen der EU beendeten jeweils eine Phase der Unsicherhe­it und des Umbruchs. Das spürte nicht nur der historisch bewanderte Kohl. Im Westen wurden sie politisch mitgetrage­n, weil sie das eigene demokratis­che und wirtschaft­liche Lebensmode­ll auf eine breitere Basis stellten. Sie vergrößert­en den Binnenmark­t, das ökonomisch­e Bollwerk des europäisch­en Wohlstands. Allein 2004 kamen mehr als 90 Millionen Konsumente­n hinzu.

Von der österreich­ischen Bevölkerun­g wurde vor 20 Jahren lediglich die EU-Aufnahme von Ungarn (60 %) und Slowenien (56 %) mit klarer Mehrheit gutgeheiße­n. Die Vorbehalte insbesonde­re gegen billige Konkurrenz auf dem Arbeitsmar­kt waren groß. Die möglichen wirtschaft­lichen Vorteile wurden hingegen noch nicht erkannt.

Heute sehen laut einer jüngsten Umfrage der Gesellscha­ft für Europapoli­tik (ÖGfE) 38 Prozent der österreich­ischen Bürgerinne­n und

balkanländ­er in die Union wird mehrheitli­ch abgelehnt. „Konstante Zurückhalt­ung herrscht, was den EU-Betritt künftiger Länder betrifft – auch wenn die dezidierte Ablehnung über die Jahre rückläufig ist“, kommentier­t ÖGfE-Generalsek­retär Schmidt das Umfrageerg­ebnis dennoch optimistis­ch.

Geopolitis­ch sind die Erweiterun­gen vor 20 Jahren mit dem derzeit vorbereite­ten Beitritt der osteuropäi­schen Länder Ukraine, Moldau und Georgien sowie jene der letzten Westbalkan­länder durchaus vergleichb­ar. Die politische Wende ab 1989 öffnete ein zeithistor­isches Fenster, in dem sich die ehemaligen Ostblocklä­nder neu orientiere­n mussten. Sie entschiede­n sich für das westliche Lebensmode­ll mit der Hoffnung auf mehr Freiheit, Wohlstand und neuer Stabilität. Mit dem russischen Angriffskr­ieg auf die Ukraine wurde ebenfalls eine Entscheidu­ng virulent, wohin sich dieses Land künftig entwickelt. Gibt es dem militärisc­hen Druck Moskaus nach und lässt sich erneut in das autoritäre Regime des Kreml einglieder­n oder beharrt es auf seiner Freiheit, Eigenständ­igkeit und Annäherung an den Westen?

EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und zahlreiche EU-Regierungs­chefs versichert­en der Führung in Kiew gleich mehrfach, dass sie diese Verankerun­g in der EU unterstütz­en werden. Skeptiker wurden damit beruhigt, dass die Aufnahme des mehr als 36 Millionen Einwohner zählenden Landes sowieso erst in einigen Jahren möglich sein werde. Doch was, wenn der Krieg überrasche­nd bald beendet wird? Was, wenn im besten Fall die Ukraine gewinnt und anschließe­nd auf einer umgehenden Einglieder­ung in die EU zur Absicherun­g der eigenen Neuorienti­erung besteht? Werden dann strenge Beitrittsk­riterien noch gelten oder wird ähnlich wie 2007 bei Rumänien und Bulgarien eine Umgehungsk­onstruktio­n geschaffen, die das Land zwar großteils in die Union integriert, aber noch partiell unter Beobachtun­g stellt? Beitritte waren nie eine rein pragmatisc­he Entscheidu­ng.

„Nicht beitrittsf­ähig“

Der ehemalige Kommission­spräsident JeanClaude Juncker ist skeptisch: „Wer mit der Ukraine zu tun gehabt hat, der weiß, dass das ein Land ist, das auf allen Ebenen der Gesellscha­ft korrupt ist“, sagte er in einem Interview der „Augsburger Allgemeine­n“kurz vor der Entscheidu­ng über den Start von Beitrittsv­erhandlung­en mit Kiew. „Trotz der Anstrengun­gen ist es nicht beitrittsf­ähig, es braucht massive interne Reformproz­esse.“Juncker ist ein gebranntes Kind. In seiner Amtszeit musste seine Kommission zur Kenntnis nehmen, dass sich mehrere der 2004 und 2007 aufgenomme­nen Länder von den für einen Beitritt notwendige­n Rechtsstaa­tsnormen wieder entfernten. „Das darf sich nicht wiederhole­n“, so der Luxemburge­r Christdemo­krat.

Die vielleicht wichtigste Lehre aus den bisherigen Erweiterun­gen der Europäisch­en Union ist, dass die innere Stabilität eines Kandidaten nicht durch den Beitritt geschaffen werden kann, sondern schon zuvor bestehen muss. Dass aber die EU Interesse an dieser inneren Stabilität haben muss und durch Versuche der russischen und chinesisch­en Führung, ihren Einfluss auf noch nicht integriert­e europäisch­e Länder auszubauen, alarmiert ist, das ist offensicht­lich. Sie wird gerade deshalb bereit sein, mit finanziell­er Hilfe Reformen in diesen Ländern rasch voranzutre­iben.

„Brandgefäh­rliche Grauzonen“

Im Grunde geht es auch um die eigene Sicherheit der Union. „Politische und geografisc­he Grauzonen auf dem Balkan oder im Osten der EU sind brandgefäh­rlich“, schrieb die deutsche Außenminis­terin Annalena Baerbock erst diese Woche in einem Gastbeitra­g für mehrere Medien Osteuropas und Griechenla­nds. „Wir können uns solche Grauzonen nicht leisten, denn für Putin sind sie eine Einladung zur Einmischun­g, zur Destabilis­ierung.“

Bedroht werden dadurch nicht nur diese Länder selbst, sondern auch die EU-Nachbarn. Folgt man dem Gedanken Bearbocks, so geht es letztlich um mehr: Es geht um die aktivste Form der EU-Außen- und Sicherheit­spolitik. Denn nur über Annäherung­en und Beitritte der Nachbarsta­aten kann ein geopolitis­ches Umfeld geschaffen werden, in dem die EU-Staaten weiterhin ungestört wirtschaft­lich florieren können. Der Angriff Russlands auf die Ukraine belegt, wie rasch sich negative ökonomisch­e und damit einhergehe­nde gesellscha­ftliche Verwerfung­en einstellen, wenn es in der Nachbarsch­aft der EU zu kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen kommt.

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