Der weite Weg von der Witzfigur zum Tiger
20 Jahre nach der großen EU-Erweiterung sind Ressentiments gegenüber dem „Osten“geschmolzen – aber noch nicht überwunden.
Die ostdeutsche Zonen-Gaby, die im November 1989 das Cover der Zeitschrift „Titanic“zierte, konnte eine Gurke nicht von einer Banane unterscheiden. Der Gag der Frankfurter Satiriker anlässlich des Mauerfalls ist auch 34 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch für einen Lacher gut – weil er einerseits das damalige zivilisatorische Gefälle zwischen Ost und West auf den Punkt bringt, zugleich aber jene unreflektierte Überheblichkeit demonstriert, die Angehörige wohlhabender Erdteile seit jeher gegenüber ihren ärmeren Nachbarn an den Tag gelegt haben.
Nach „Mohren“und „Bloßfüßigen“, „Rothäuten“und „Schlitzaugen“, „Tschuschen“und „Katzelmachern“waren nach dem Zusammenbruch des „Ostblocks“dessen plötzlich in die Freiheit entlassenen Insassen an der Reihe. Über die Mischung aus Herablassung und Angst kann jeder ein Lied singen, der von der realsozialistidie schen Seite des Eisernen Vorhangs in den „goldenen“Westen gekommen ist und wahlweise als kriminelle Bedrohung des Sozialstaats oder als unermüdlich schuftende Billigkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt punziert wurde. Vermutlich können sich heute die wenigsten daran erinnern, dass das „Österreich zuerst“-Volksbegehren der FPÖ 1992 in keinem seiner Punkte gegen Moslems gerichtet war, sondern ausschließlich gegen Osteuropäer, die mittels einer Stiftung davon abgehalten werden sollten hierherzukommen.
Zwei Jahrzehnte nach der großen Osterweiterung der Union sind diese Ressentiments so weit geschmolzen, dass heutzutage selbst die Freiheitlichen um die Gunst der Wähler mit osteuropäischem Migrationshintergrund werben. Ja, die Vorurteile schlummern immer noch unter der Oberfläche, wie die (inhaltlich berechtigte) Kritik an der illiberalen Wende in Budapest und Warschau bewiesen hat – bei ähnlichen Entwicklungen in Rom, Den Haag oder Kopenhagen deutlich weniger vorwurfsvoll vorgetragen wurde und wird. Und ja, was die institutionelle Praxis anbelangt, etwa bei der Besetzung der Posten in der EU, sind Mittelosteuropäer nach wie vor unterrepräsentiert.
Dass dieser Imagewandel dennoch stattgefunden hat, hat nichts mit postkolonial-intersektionalen Denkverboten zu tun – und viel mit dem Wohlstand, den der Zugang zum Binnenmarkt und zu den Fördertöpfen der EU ermöglicht hat. Denn wie die Beispiele Irlands, Japans und Südkoreas eindrücklich beweisen, wächst das internationale Renommee im Gleichschritt mit dem BIP. Was den ostasiatischen und keltischen Tigern gestern gelungen ist, gelingt heute den Polen, Tschechen und Balten. Und morgen vielleicht den Albanern und Ukrainern.
Beliebt waren EU-Erweiterungen noch nie. Das war 1986 schon so, als Spanien und Portugal der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) beitraten. Es war 1995 so, als Österreich zur Europäischen Union (EU) kam. Der Widerstand insbesondere in Frankreich war erheblich, ein zweites deutschsprachiges Land aufzunehmen. Es war vor 20 Jahren das Gleiche als acht osteuropäische Länder gemeinsam mit Malta und Zypern der EU beitraten. Viele warnten damals vor einer unverantwortlichen Überlastung der Union. Was aber all diese Erweiterungen auszeichnet, war ein politisches Momentum. Die Chance, Geschichte zu schreiben, galt für die verantwortlichen Regierungschefs letztlich mehr als ihre Angst vor der schlechten Stimmung in der Bevölkerung.
Griechenland trat nach der Überwindung der Diktatur 1981 der EG bei. Spanien und Portugal aus dem gleichen Grund 1986. Für Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien war es 2004 die vorangegangene Befreiung aus der sowjetischen Umklammerung, die sie ebenso motivierte wie die damals 15 EU-Regierungen, mit der großen Erweiterung die politische Wende in Osteuropa unwiderruflich abzuschließen.
„In der Logik des europäischen Einigungsprozesses liegt die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa“, sagte in Vorbereitung dieses Schritts der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) 1998. „Die Westgrenze Polens darf nicht auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union bleiben.“Erweiterungen der EU beendeten jeweils eine Phase der Unsicherheit und des Umbruchs. Das spürte nicht nur der historisch bewanderte Kohl. Im Westen wurden sie politisch mitgetragen, weil sie das eigene demokratische und wirtschaftliche Lebensmodell auf eine breitere Basis stellten. Sie vergrößerten den Binnenmarkt, das ökonomische Bollwerk des europäischen Wohlstands. Allein 2004 kamen mehr als 90 Millionen Konsumenten hinzu.
Von der österreichischen Bevölkerung wurde vor 20 Jahren lediglich die EU-Aufnahme von Ungarn (60 %) und Slowenien (56 %) mit klarer Mehrheit gutgeheißen. Die Vorbehalte insbesondere gegen billige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt waren groß. Die möglichen wirtschaftlichen Vorteile wurden hingegen noch nicht erkannt.
Heute sehen laut einer jüngsten Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) 38 Prozent der österreichischen Bürgerinnen und
balkanländer in die Union wird mehrheitlich abgelehnt. „Konstante Zurückhaltung herrscht, was den EU-Betritt künftiger Länder betrifft – auch wenn die dezidierte Ablehnung über die Jahre rückläufig ist“, kommentiert ÖGfE-Generalsekretär Schmidt das Umfrageergebnis dennoch optimistisch.
Geopolitisch sind die Erweiterungen vor 20 Jahren mit dem derzeit vorbereiteten Beitritt der osteuropäischen Länder Ukraine, Moldau und Georgien sowie jene der letzten Westbalkanländer durchaus vergleichbar. Die politische Wende ab 1989 öffnete ein zeithistorisches Fenster, in dem sich die ehemaligen Ostblockländer neu orientieren mussten. Sie entschieden sich für das westliche Lebensmodell mit der Hoffnung auf mehr Freiheit, Wohlstand und neuer Stabilität. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurde ebenfalls eine Entscheidung virulent, wohin sich dieses Land künftig entwickelt. Gibt es dem militärischen Druck Moskaus nach und lässt sich erneut in das autoritäre Regime des Kreml eingliedern oder beharrt es auf seiner Freiheit, Eigenständigkeit und Annäherung an den Westen?
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und zahlreiche EU-Regierungschefs versicherten der Führung in Kiew gleich mehrfach, dass sie diese Verankerung in der EU unterstützen werden. Skeptiker wurden damit beruhigt, dass die Aufnahme des mehr als 36 Millionen Einwohner zählenden Landes sowieso erst in einigen Jahren möglich sein werde. Doch was, wenn der Krieg überraschend bald beendet wird? Was, wenn im besten Fall die Ukraine gewinnt und anschließend auf einer umgehenden Eingliederung in die EU zur Absicherung der eigenen Neuorientierung besteht? Werden dann strenge Beitrittskriterien noch gelten oder wird ähnlich wie 2007 bei Rumänien und Bulgarien eine Umgehungskonstruktion geschaffen, die das Land zwar großteils in die Union integriert, aber noch partiell unter Beobachtung stellt? Beitritte waren nie eine rein pragmatische Entscheidung.
„Nicht beitrittsfähig“
Der ehemalige Kommissionspräsident JeanClaude Juncker ist skeptisch: „Wer mit der Ukraine zu tun gehabt hat, der weiß, dass das ein Land ist, das auf allen Ebenen der Gesellschaft korrupt ist“, sagte er in einem Interview der „Augsburger Allgemeinen“kurz vor der Entscheidung über den Start von Beitrittsverhandlungen mit Kiew. „Trotz der Anstrengungen ist es nicht beitrittsfähig, es braucht massive interne Reformprozesse.“Juncker ist ein gebranntes Kind. In seiner Amtszeit musste seine Kommission zur Kenntnis nehmen, dass sich mehrere der 2004 und 2007 aufgenommenen Länder von den für einen Beitritt notwendigen Rechtsstaatsnormen wieder entfernten. „Das darf sich nicht wiederholen“, so der Luxemburger Christdemokrat.
Die vielleicht wichtigste Lehre aus den bisherigen Erweiterungen der Europäischen Union ist, dass die innere Stabilität eines Kandidaten nicht durch den Beitritt geschaffen werden kann, sondern schon zuvor bestehen muss. Dass aber die EU Interesse an dieser inneren Stabilität haben muss und durch Versuche der russischen und chinesischen Führung, ihren Einfluss auf noch nicht integrierte europäische Länder auszubauen, alarmiert ist, das ist offensichtlich. Sie wird gerade deshalb bereit sein, mit finanzieller Hilfe Reformen in diesen Ländern rasch voranzutreiben.
„Brandgefährliche Grauzonen“
Im Grunde geht es auch um die eigene Sicherheit der Union. „Politische und geografische Grauzonen auf dem Balkan oder im Osten der EU sind brandgefährlich“, schrieb die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock erst diese Woche in einem Gastbeitrag für mehrere Medien Osteuropas und Griechenlands. „Wir können uns solche Grauzonen nicht leisten, denn für Putin sind sie eine Einladung zur Einmischung, zur Destabilisierung.“
Bedroht werden dadurch nicht nur diese Länder selbst, sondern auch die EU-Nachbarn. Folgt man dem Gedanken Bearbocks, so geht es letztlich um mehr: Es geht um die aktivste Form der EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Denn nur über Annäherungen und Beitritte der Nachbarstaaten kann ein geopolitisches Umfeld geschaffen werden, in dem die EU-Staaten weiterhin ungestört wirtschaftlich florieren können. Der Angriff Russlands auf die Ukraine belegt, wie rasch sich negative ökonomische und damit einhergehende gesellschaftliche Verwerfungen einstellen, wenn es in der Nachbarschaft der EU zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt.