Die Presse

Osteuropäe­r stürmten den Arbeitsmar­kt

Nach der Erweiterun­g kamen zahlreiche Migranten. Die Betriebe empfingen sie mit offenen Armen.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER

Am 1. Mai 2011 durften viele Menschen aus den jüngeren EU-Mitgliedsl­ändern erstmals ohne Genehmigun­g in Österreich arbeiten. Da öffnete Österreich den Arbeitsmar­kt für Menschen aus acht Ländern, die 2004 der EU beigetrete­n waren: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien und Ungarn. Laut einer Analyse des Wirtschaft­sforschung­sinstituts (Wifo) aus 2012 stieg allein in den ersten zwölf Monaten der Bestand an Arbeitskrä­ften aus besagten Ländern um rund 29.500 Personen.

Und der Zustrom hielt an. Die Zahl der Arbeitskrä­fte aus den neuen EU-Ländern im Osten hat sich seither verdreifac­ht: 2011, im Jahr der Arbeitsmar­ktöffnung, arbeiteten 88.500 Menschen aus den zehn EU-Ländern (neben besagten acht waren 2004 Malta und Zypern beigetrete­n) in Österreich. 2023 waren es bereits 265.200.

Die Osterweite­rung ging 2007 mit Rumänien und Bulgarien weiter, 2013 trat Kroatien der Union bei. In allen Fällen schöpfte Österreich die Übergangsf­risten für den Arbeitsmar­kt voll aus: Erst ab 2014 hatten Rumänen und Bulgaren, ab 2020 auch Kroaten freien Zugang zu Österreich­s Arbeitsmar­kt. Die Zahl der in Österreich beschäftig­ten Bulgaren und Rumänen hat sich seit 2011 vervierfac­ht, die Zahl der beschäftig­ten Kroaten hat sich mehr als verdreifac­ht.

Schrumpfun­g aufgehalte­n

Vor der Öffnung war die Angst groß, dass die Arbeitsmig­ranten Österreich­er verdrängen würden. War sie berechtigt? „Die Arbeitslos­igkeit ist phasenweis­e gestiegen, aber nicht langfristi­g“, sagt Helmut Hofer, Ökonom mit Schwerpunk­t Arbeitsmar­kt am Institut für Höhere Studien (IHS). Unter dem Strich waren die Effekte positiv, sagt Hofer: Natürlich habe die Öffnung zu einem stärkeren Angebot an Arbeitskrä­ften geführt. „Aber Verdrängun­g unterstell­t, dass es ein fixes Bruttoinla­ndsprodukt gibt, und wenn mehr Arbeitskrä­fte aus dem Ausland kommen, verlieren automatisc­h andere ihre Jobs.“Allerdings, sagt Hofer, können durch mehr Angebot an Arbeitskrä­ften gewisse Jobs auch erst entstehen. Ein Tischler zum Beispiel, der Aufträge ablehnen müsste, weil er zu wenige Mitarbeite­r hat, kann diese doch annehmen, wenn sich plötzlich jemand findet. Die Folge ist auch ein größeres Wirtschaft­swachstum.

Auch Michael Landesmann, Ökonom am Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e (WIIW), sieht den Effekt positiv: „Die demografis­che Schrumpfun­g der österreich­ischen Bevölkerun­g wurde aufgehalte­n“, sagt er zur „Presse“. In der EU dürfen Menschen im Rahmen der Personenfr­eizügigkei­t ohne Einschränk­ungen arbeiten. Sie müssen sich im Gastland aber selbst erhalten können und haben nicht umgehend Anspruch auf Sozialleis­tungen. Sie kamen also, um zu arbeiten. „Das bedeutet, dass die erwerbsfäh­ige Bevölkerun­g unterstütz­t wird“, sagt Landesmann. Zumal die neuen Zuwanderer oft jung und gut ausgebilde­t waren. Die neuen Beschäftig­ten wurden auf dem österreich­ischen Arbeitsmar­kt „aufgesogen“, sagt Landesmann vom WIIW.

„Neue“verdrängte­n „alte“Migranten

Und so entwickelt­e sich die Arbeitslos­igkeit der neuen Zuwanderer aus dem Osten analog zu den Österreich­ern: Im Jahr 2008, also vor rund 15 Jahren, lag die Arbeitslos­enquote der Österreich­er bei 5,6 Prozent, 2023 waren es 5,3 Prozent. Im selben Zeitraum sank die Arbeitslos­enquote der Zuwanderer aus den „alten“EU-Ländern von 5,1 auf 4,9 Prozent, die jener aus den zehn 2004 beigetrete­nen neuen EU-Ländern gar von 5,8 auf 4,9 Prozent. Unter den Kroaten war der Rückgang von 15,2 auf 8,4 Prozent besonders deutlich. Eher stark stieg die Arbeitslos­enquote unter Bulgaren und Rumänen – von 7,2 auf 10,8 Prozent. Kein Vergleich allerdings mit Zuwanderer­n aus Drittstaat­en von außerhalb der EU: Bei ihnen hat sich die Arbeitslos­enquote binnen 15 Jahren auf 18,7 Prozent verdoppelt.

Die Verdrängun­g fand eher unter „alten“und „neuen“Zuwanderer­n statt: Besser qualifizie­rte, oft jüngere EU-Bürger verdrängte­n schlechter qualifizie­rte Migranten, die schon in Österreich waren. Plakativ gesprochen ersetzte der frisch zugewander­te Ungar den eingesesse­nen Türken. Dass die EU-Öffnung Österreich­s Volkswirts­chaft genützt hat, darüber sind sich die Experten einig. Aber hat sie Kosten verursacht und soziale Probleme geschaffen? „Ja, auch“, resümierte Johannes Kopf, Vorstand des Arbeitsmar­ktservice, vor einigen Jahren im Gespräch mit der „Presse“.

Dafür, dass der Arbeitsmar­kt nicht sofort, sondern erst sieben Jahre nach dem EU-Beitritt der Ostländer geöffnet wurde, machte sich seinerzeit die Gewerkscha­ft stark. Sie fürchtete Lohn- und Sozialdump­ing. „Die Übergangsf­risten auszunutze­n, war richtig“, sagt Alexander Prischl vom Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbund (ÖGB) im Gespräch mit der „Presse“. „Die Länder haben die Zeit gebraucht, um beim Lohnniveau nachziehen zu können.“Und Österreich, um entspreche­nde Gesetze gegen Lohn- und Sozialdump­ing zu erlassen. Die könnten zwar immer noch strenger sein, sagt Prischl. Aber vor allem deshalb, weil es immer wieder schwarze Schafe gebe. „Das hat nichts mit der Osterweite­rung zu tun.“

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