Die Presse

„Die Manager sind ob der Kriegsdaue­r zermürbt“

Eine neue Welle des Rückzugs aus Russland scheint bei westlichen Firmen stattzufin­den. Was geht da gerade vor sich?

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Um die Gemütslage der westlichen Unternehme­n seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs zu umreißen, die in Russland tätig sind und gegen keine Sanktionen verstoßen, kann man auch zu berühmten Musiktitel­n greifen. „Should I Stay Or Should I Go?“, fragten sich in den vergangene­n zwei Jahren die meisten in Anlehnung an die Rockband The Clash, wobei sie statt „should“immer wieder auch „could“fragen mussten. Und um die Vielfalt ihrer Entscheidu­ngen zu umreißen, kann in Anlehnung an das Lied von Paul Simon konstatier­t werden: „50 Ways to Leave Your Russia“.

Tatsächlic­h fielen die Entscheidu­ngen und Strategien der Firmen höchst unterschie­dlich bis widersprüc­hlich aus. Und gemessen an zwei jüngsten Ereignisse­n bekommen solche Widersprüc­hlichkeite­n bereits eine kuriose bis fragwürdig­e Note: Am 18. April nämlich fühlte sich die Raiffeisen Bank Internatio­nal (RBI) plötzlich gezwungen, sogar eine Adhoc-Meldung an ihre Aktionäre auszugeben, weil sie nun damit rechne, dass die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) verlangen werde, die Reduzierun­g des Russland-Geschäfts zu beschleuni­gen (was Reuters-Informatio­nen zufolge auch auf die UniCredit zukomme). Dem war am 16. April ein Bericht der „Financial Times“vorausgega­ngen, dass die RBI gemessen an ihren vielen Stellenanz­eigen (die sich dann als veraltet herausgest­ellt hatten) offenbar ehrgeizige Wachstumsp­läne dort habe.

Unmut und Vorwürfe

Diese scheinen aber aktuell eher USKonzerne zu haben. Am 24. April nämlich, und das ist das zweite bemerkensw­erte Ereignis, veranstalt­ete – wie „Die Presse“herausfand – die US-Handelskam­mer in Russland, Am Cham, ihre Konferenz zu Fragen des Personalwe­sens (HR). Thema: „Adapting HR to a Changing World“. Die örtlichen Vertreter von Johnson & Johnson, Colgate-Palmolive, Pepsi Co oder etwa Mars traten als Redner auf. Medien waren zu dem Event nicht zugelassen.

Die Europäer würden sich zu ihrem eigenen Schaden selbst aus Russland vertreiben, während die Gebot, betrieblic­her Verantwort­ung, geschäftli­cher Zweckmäßig­keit und möglicher neuer Sanktionen seit Anfang 2022 abspielt sowie angesichts des sich hinziehend­en Kriegs weiter verstärkt. Und die sich unter Konkurrent­en eben auch im Verdacht äußert, der jeweils andere würde es sich besser richten.

„Hoch bedenklich­e Verkäufe“

Doch deuten die jüngsten Rückzugspl­äne von Boss, Knauf, Danone und Co. auf eine neue Offensive bei den westlichen Unternehme­n hin? „Man kann von einer neuen Welle des Rückzugs sprechen“, erklärt der Frankfurte­r Rechtsanwa­lt und ausgewiese­ne Sanktionse­xperte Viktor Winkler, der viele Unternehme­n in Sachen Russland-Sanktionen berät, im Gespräch mit der „Presse“. „Das Management der Unternehme­n ist ob der langen Kriegsdaue­r zermürbt. Dazu kommt, dass im Westen die Inflation zurückgeht und die Wirtschaft sich erholt, weshalb manche Unternehme­n zu der Meinung gelangen, auf das Russland-Geschäft nun eher verzichten zu können.“

Winkler weist noch auf einen anderen wenig beachteten Umstand hin: Am 6. März nämlich publiziert­en die USA ihre „Tri-Seal Compliance Note“, mit der auch die europäisch­en Banken ermahnt werden, sich strikt an die US-Sanktionen und US-Gesetze zur Exportkont­rolle zu halten. „Um sich nicht dem Risiko auszuliefe­rn, setzen die Banken sogar auf Overcompli­ance und machen ihrerseits auf die Unternehme­n Druck.“

Doch sei ein hastiger Verkauf des Russland-Geschäfts „hoch bedenklich“, so Winkler: „Die russischen Unternehme­r und der russische Staat, der den westlichen Unternehme­n ja einen Preisabsch­lag von 50 Prozent beim Verkauf vorschreib­t, bekommen die Firmen zum Spottpreis und damit riesige Vorteile.“

Der Großteil bleibt

Unter dem Strich ist die Zahl derer, die weggegange­n sind, freilich nicht so groß, wie es gerade scheint. Nur etwa zehn Prozent seien mit Ende Februar 2024 – vorwiegend in zwei Wellen (Mai–Juni 2022 und Jänner– April 2023) – gegangen, rechnet die Kyiv School of Economics (KSE) in ihrem Monitoring von etwa 3700 Unternehme­n vor.

Die meisten westlichen Firmen, die vor Kriegsbegi­nn in Russland tätig gewesen sind, sind dort weiter teilweise oder ganz aktiv, weil sie sich entweder bewusst dafür entschiede­n haben oder aber vom Kreml und auch den komplexen Sanktionen daran gehindert wurden. Ihre Ankündigun­g schnell umgesetzt hätten jene Unternehme­n, deren RusslandEn­gagement nur einen Bruchteil des gesamten globalen Geschäfts ausgemacht habe – etwa McDonald’s oder Starbucks. Wer etwas zu verlieren gehabt habe, habe sich mehr Zeit gelassen wie etwa Mercedes-Benz oder Hyundai, schreibt die KSE. Mit Stand Ende Februar bereiteten sich laut KSE 505 Unternehme­n auf einen Rückzug vor. 701 hatten ihre Tätigkeit

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Getty Images Ein Hugo-Boss-Geschäft in Moskau. Nun verlässt der Konzern den russischen Markt.

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