Grenzgang: Bayern oder Österreich?
Selten polarisierte eine Suche beim FC Bayern derart, nie bangte Österreichs Fußball so um das Ja-Wort eines Teamchefs. Was will Ralf Rangnick? Über Fehden, Fehler und Folgen für die nahe EM.
Ralf Rangnick hat(te) die Qual der Wahl: ÖFB, Wien und Österreichs Nationalteam oder FCB, München und den größten, populärsten und erfolgreichsten Klub der deutschen Bundesliga? Diesen Schritt muss sich selbst ein „Fußballlehrer“wie er gut überlegen. Da das eben erst behutsam, wider jede Skepsis mit frischer rot-weiß-roter Euphorie Aufgebaute im grellen Scheinwerferlicht der Anerkennung. Dort an der Säbener Straße der FC Hollywood, bei dem Trainer glänzen oder großartige Coaches wie Thomas Tuchel heillos scheitern, weil zu viele Faktoren mitspielen und fortlaufend Schwergewichte à la Uli Hoeneß ihren bayrischen Senf plakativ über die „Bild-Zeitung“beimengen.
In Österreich ist Rangnick die unumstrittene Autorität, die erste Wahl, der 65-Jährige führte die Mannschaft ja souverän zur EM in Deutschland. In München wäre er, diesen Satz ließ Hoeneß gekonnt fallen, ja doch nur die dritte Wahl nach Xabi Alonso und Julian Nagelsmann.
Die dritte Wahl als Nr. 1
Also: Lieber der Hecht im Wiener Karpfenteich mit der Fußball-EM und Spielen gegen Frankreich, Polen und den Niederlanden vor Augen oder doch ein (seit jeher bei diesem Klub ersehnter) Sprung ins Haifischbecken mit Champions League, Bundesliga, „Bild“und Hoeneß? Wenn Rangnick einen letzten Anstoß nötig hatte, was er denn tun soll, hat der „Patron vom Tegernsee“ihm und Österreichs Fußball eigentlich den größten Dienst längst erwiesen. Wer nur als dritte Wahl ausgewiesen wird, kann in diesem Geschäft den Job doch nicht wechseln. Oder?
Die seit Jahren vermeintlich schwelende Fehde zwischen Hoeneß und Rangnick wurde in Boulevardmedien zuletzt auch über Gebühr strapaziert, wie viel Macht, Lobby, Schall und Rauch im Spiel sind, ist doch in einem anderen Blatt gestanden. Die seriöse „SZ“mit Sitz in München berichtete dazu: Das Angebot liege dem Fußballlehrer seit vergangenem Dienstag vor, „Rangnick muss nur noch Ja sagen“.
Ablösen und Gage spielen für den FCB keine Rolle, diese Summe firmiert für gemeinhin unter dem Begriff „Portokassa“. Wenn ein Verein dieser Größenordnung einen Trainer vom aktuellen Arbeitgeber loseisen will, bekommt er ihn auch, weil Geld letzten Endes keine Rolle spielt. Für Nagelsmann blätterte man ja auch kolportierte 15 bis 20 Millionen Euro in Leipzig auf den Tisch. Nur, wie ist es um Wertschätzung, Aufgabe, Rollenverteilung und Gestaltungsfreiheit tatsächlich bestellt? Beim FCB stehen mit Max Eberl (Sportvorstand) und Christoph Freund (Sportdirektor) zwar Rangnick zwei gut vertraute Bekannte am Pult, doch kann er sich die erbetene Mitsprache bei Transfers, Spielsystem und Gestaltung wirklich sichern? Reicht es ihm wirklich, wie er in einem Interview zuletzt mit der Fachplattform 90minuten.at erklärt hat, wenn der Klub sagt: „Wir wollen dich“?
Um Geld kann es ihm nicht gehen, Rangnick braucht Vision, Vertrauen. Dass Fahrt- und Gegenwind in Wien weitaus milder als in München sind, ist unbestritten.
Petitionen und Signale
Ungeachtet dessen wurde zuletzt rundum Wirbel publik, weil Rangnick auch als Person im deutschen Fußball extrem polarisiert. Stuttgart, Hannover, Schalke, TSG Hoffenheim, RB Leipzig: Er hinterließ vielerorts Fußspuren und wurde nur 2011 Cupsieger. Dass Fan-Foren des Vereins Unterschriften sammeln, um mittels einer „Petition“sein Engagement zu verhindern, mutet bemüht an. Was sie in Wahrheit zählt? Nur zur Erinnerung: Als 2011 ein Torhüter von Schalke zu den Bayern wechselte, gab es auch diese „Koan“-Liste. Manuel Neuer steht bis dato im Tor als unbestrittene Klubikone.
Was in diesem Tauziehen auffällt, ist die verhaltene Reaktion des Verbands. Mit dem Wissen, 2022 die einzig richtige Entscheidung – mit dem wenig später nach der „Inseratenaffäre“vom Hof gescheuchten Gerhard Milletich als Verbandschef – in der Trainerwahl getroffen zu haben, wäre ein offensives Entgegentreten keinesfalls verwunderlich gewesen. Auch damals glich es erst einem Gezerre, gelang der Coup erst im Doppelpass mit Manchester United (Rangnick war mit einem Beratervertrag versehen, der eine „Nebentätigkeit“zuließ). Der Fachmann aus Backnang, der sein Faible für Pressing durch Dynamo-KiewTrainer Walerij Lobanowsky entdeckt hat, hat schließlich einen Vertrag bis 2026. Dem Werber deutlicher mitzuteilen, dass Laufzeit sowie gegenseitige Zusage fixiert sind, wäre ein Signal gewesen.
Die Ruhe im ÖFB
ÖFB-Sportdirektor Peter Schöttel jedoch blieb besonnen, zurückhaltend. Weil früh klar war, dass Reisende weder zu halten sind noch gehalten werden sollten oder „Slow Play“(Texas-Hold’em-Jargon) die bessere Taktik in diesem Poker mit der Hoffnung schien, doch die Nase mit EM und möglicher WM 2026 in den USA vorn zu haben, wenn alle Karten auf dem Tisch liegen?
In Ermangelung aktuell weiterführender Teamchef-Alternativen – der umgehende Rückfall in das altgewohnte Namenspiel mit Andreas Herzog, Peter Stöger (Sagte er VfL Bochum nebst privater Gründe deshalb ab?) etc. wäre die logische Folge von Rangnicks Abgang – hätte manch anderer unter Garantie in heilloser Vision vor der nahen EM (ab 15. Juni) lauthals aufgeschrien.
EM ohne Bayerns Einfluss?
Damit ist die große Barriere in diesem Tauziehen freigelegt: Könnte der neue Bayern-Trainer denn die finale Phase der Vorbereitung auf die Fußball-EM für Österreichs Nationalteam unbelastet, konflikt- und stressfrei meistern? Wäre ein Turnier im Dienste des ÖFB möglich, wenn zeitgleich Fragen, Problemstellungen und Begehrlichkeiten aus München im Berliner Teamquartier hereinflattern? Das auszublenden, sich derart abzukapseln ist nur schwer vorstellbar. Andererseits stehen Profis auf dem Platz, bleiben Marschroute und Ziellinie ebenso klar, würde Rangnick mit dem finalen EM-Spiel Abschied nehmen. Im Fall des jähen Scheiterns würde jedoch ein „G’schmäckle“einhertraben.
Am Dienstag nach dem Champions-League-Spiel wird Max Eberl vor die Kameras treten. Da wollte er den neuen Bayern-Coach wie ein Kaninchen aus dem Zylinder ziehen. Bis zuletzt wollten Insider in Wien glauben, nein: wissen, dass er nicht Ralf Rangnick heißen wird.