Braucht Österreich eine zweite EU-Osterweiterungswelle?
Kein anderes Land dominiert die Finanzgeschäfte Osteuropas so sehr wie Österreich. Doch nicht jede Wachstumswette ging auf.
Neben der Osteuropa-Karte liegen Messer und Gabel. Brotbrösel verteilen sich darauf, und der Chef der Raiffeisen International Bank-Holding und Osteuropa-Pioneer, Herbert Stepic, riecht an einem Weinglas. Es sind Bilder wie jene des Geschäftsberichts der Bank für 2006, die den Eindruck erwecken, dass die Region förmlich von österreichischen Banken verschlungen wurde. Schon damals trugen die GUS-Staaten 33 Prozent zum Raiffeisen-Gewinn bei. Bis heute dominiert kein anderes Land Osteuropas Finanzgeschäfte so sehr wie Österreich. Marktführer der Region ist mit einem Vermögen von 155 Milliarden Euro die Erste Group. Auch Raiffeisen und Bank Austria (heute Unicredit) zählen zu den größten Banken vor Ort.
Daher wird eine weitere EU-Beitrittswelle von Österreich genau beobachtet. Die Gespräche mit Montenegro und Serbien gestalten sich aus politischen Gründen schwierig. Heuer kamen Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien hinzu. Die Ukraine, die Republik Moldau sowie Bosnien und Herzegowina wurden zu Beitrittskandidaten erklärt. Potenzielle Kandidaten sind der Kosovo und Georgien. Offiziell ist auch die Türkei noch in der Warteschleife. Damit könnte die EU-27 zu einer EU-36 wachsen. Die Dimension einer solchen Erweiterung entspräche der von 2004. Doch eignen sich die vergangenen 20 Jahre als Vorbild auf eine abermalige Ausdehnung der Union?
Der Zusammenbruch der Sowjetunion lag noch nicht lang zurück, als die EU am 1. Mai 2004 die drei baltischen Staaten, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und Slowenien aufnahm und ihre Grenze nach Osten verschob. Parallel traten auch Malta und Zypern der EU bei – später auch Rumänien, Bulgarien und Kroatien.
Seitdem haben sich die neuen Mitglieder mit einer Dynamik entwickelt, die in der modernen Geschichte ihresgleichen sucht. In weniger als zwei Jahrzehnten haben diese ihr Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von nur 30 Prozent des westeuropäischen Niveaus auf heute über 70 Prozent gesteigert. Der größte Anstieg fand allerdings vor 2008 statt – also als die EU ihre Handelsbeziehungen liberalisierte und selbst stark wuchs. Nach der Finanzkrise sank die Wirtschaftsleistung europaweit. Etwa erreichte Slowenien, schon zu Beginn der Transformation das reichste Land der Region, im Jahr 2022 ein BIP pro Kopf von 27.980 Euro – 79 Prozent des EU-Durchschnitts von 35.430 Euro. Zum Vergleich: Alle neuen EU-Kandidaten hatten 2022 hingegen ein Pro-Kopf-Einkommen von deutlich unter 9000 Euro, die Ukraine sogar nur 4200 Euro.
EU-Geldregen für Polen und Ungarn
„Der boomende Handel und substanzielle Direktinvestitionen haben einen anhaltenden Aufholprozess gegenüber Westeuropa begünstigt“, sagt Raiffeisen-Ökonom Gunter Deuber. Auch die europäische Kohäsionspolitik ließ Gelder vermehrt von West- nach Osteuropa fließen. Das Budget dafür umfasst für den Zeitraum 2021 bis 2027 etwa 442 Mrd. Euro. Neben Portugal, Spanien, Italien und Griechenland sind vor allem Lettland, Litauen, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Kroatien Zielregionen. Polen erhält die meisten Förderungen und konnte seine Exporte von 2004 bis 2023 um das 7,4Fache steigern.
Zusätzliche 379 Mrd. Euro fließen in die Agrarpolitik. Auch hier profitieren Polen und Ungarn. Paradoxerweise profitieren damit gerade die Länder besonders stark von den Förderprogrammen, in denen die Demokratie in Gefahr ist. Globsec-Ökonom Vladimír Vaňo ortet den Grund dafür in der Schnelligkeit des Umbruchs. „Die Bevölkerung ist mit dem wirtschaftlichen Transformationsprozess überfordert. Das schlägt sich in einem Rückzug zu autoritären Strukturen nieder.“Neben der Tschechischen Republik schreiben in diesen beiden Staaten auch die Banken besonders hohe Gewinne. Die lokalen Notenbanken der drei Länder haben viel früher und stärker die Zinsen erhöht als die EZB. Das hat die Zins- und Provisionserträge der Banken verbessert. Andererseits sorgen Abschreibungen für Fremdwährungskredite und hohe Banksteuern für Kopfzerbrechen.
Deuber resümiert, dass nicht alle Wachstumswetten aufgegangen seien. „Naive und zu optimistische Marktansätze sind zu vermeiden.“Dennoch seien die Aussichten der Region als integraler Bestandteil des europäischen Bankenmarkts nach wie vor konstruktiv.