Seid tolerant? Als ob das so einfach wäre!
Darf man Pro-Palästina-Camps auflösen? Haben auch Islamisten ein Recht zu demonstrieren? Intolerant sind immer die anderen. Und hinter der allseits gerühmten Tugend der Toleranz lauern noch weitere Tücken.
Wie war das mit diesen ProPalästina-Aktivisten im Alten AKH? In der Nacht auf Donnerstag hat die Exekutive ihr Protestcamp geräumt. Woher glaubten die Polizisten zu wissen, dass es da „zu radikal“, zu gewaltbereit würde?
Und wie ist das mit den Islamisten, die in Hamburg für ein Kalifat trommelten? Sicher: Würden sie sich durchsetzen, dann hätten wir einen Gottesstaat und es wäre vorbei mit unseren Freiheiten. Wenig wahrscheinlich zwar, aber: Wehret den Anfängen. Nach der oft zitierten Formel von Karl Popper: Keine Toleranz gegenüber den Intoleranten! Der heimische Innenminister, Karner, will solche Aufmärsche deshalb unterbinden. Andererseits: Diese Leute haben friedlich demonstriert. Wäre es nicht gerade intolerant, sie gewaltsam daran zu hindern? Auch wenn ihr Aufmarsch nach den Worten von Karners deutscher Kollegin „schwer erträglich“ist?
Wie ein Gespenst zieht sich Poppers „Paradoxon der Toleranz“durch unsere Debatten. Dabei hat es der Wiener Philosoph ganz eng gefasst: Zu stoppen sind nur jene, die ihre intolerante Haltung gewaltsam durchsetzen, mit „Fäusten und Pistolen“, wie es bei Popper heißt (oder mit Eiern, ließe sich aktuell ergänzen, mit Gruß an Ariel Muzicant).
Auf Maulkörbe verzichten
Darauf hätte man sich rasch geeinigt. Aber heute (miss)verstehen viele die Aufforderung in einem weiten Sinn. Sie wollen damit auch jenen das Recht auf freie Meinungsäußerung entziehen, die mit Argumenten für intolerante und autoritäre Ideologien werben. Rechtzeitig, heißt es dann, bevor diese Agitatoren hinreichend viele überzeugen, die Macht übernehmen und viele von uns unserer Rechte berauben.
Diese Intention stand schon hinter dem Verbotsgesetz. Liberale lehnen es meist ab: Eine Demokratie müsse auch Wortmeldungen von Neonazis aushalten. So wie Rassisten und Homophoben solle man ihnen mit Fakten und Argumenten kontern, nicht mit Verboten und Strafen. Denn die Annahme, dass wir ohne Verbot in dunkle Zeiten zurückfallen, ist ungesichert. So lassen sich Grenzen der Toleranz nur willkürlich ziehen – aus Sicht der Ausgeschlossenen ist das ein intoleranter Akt.
Aber so leicht kommen die Liberalen nicht davon, auch sie trifft der Vorwurf. Wer sich über Mohammed oder Jesus lustig macht, übt aus ihrer Sicht eine legitime Kritik. Viele Gläubige sehen darin Blasphemie, moderner gesagt Hassrede, also Intoleranz gegenüber ihrer Religion. Oder: Prostitution ist für Liberale ein Teil der sexuellen Freiheit, für manche
Feministinnen hingegen strukturelle Gewalt gegen Frauen, die damit entmenschlicht werden. Wie bei Burka und Kopftuch haben stets beide Seiten plausible Gründe, die andere als intolerant zu punzieren.
Wo beginnt die Gewalt?
Auch Poppers Vorschlag, die Grenze erst bei der Gewalt zu ziehen, hilft da nicht weiter. Beim Beispiel der Prostitution sehen manche die Gewalt ja schon am Werk. Und jedes Gesetz, das etwas verbietet, muss die Exekutive durchsetzen. Damit ist alles Argumentieren dafür aus Sicht der Betroffenen schon Androhung von Gewalt. Da lässt sich nur noch eine Faustregel empfehlen: Halten wir uns beim Verbieten und Canceln zurück, im Namen der Toleranz.
Aber damit ist das Abgründige an ihr nicht ausgeschöpft. Sie gilt ja als eine Tugend. Doch worum geht es dabei? Wir dulden etwas, das wir für falsch halten, oft auch moralisch falsch. Tolerant ist etwa ein Christ, der Abtreibung für eine schwere Sünde hält, aber nicht will, dass sie verboten wird. Die Toleranten lassen also etwas Böses zu, das sich vielleicht verhindern ließe. Warum? Beliebt ist eine pragmatische Begründung: Weil andere Gruppen das für mich Böse moralisch anders bewerten. Sie würden sich wehren, und dann hätten wir einen endlosen Konflikt, und das wäre noch schlimmer.
Kann das überzeugen? Zur Definition von Toleranz gehört, dass ich mitsamt all jenen, die meine Überzeugung teilen, die Macht hätte, das Falsche nicht geschehen zu lassen. Aber das ist genau genommen nicht der Fall, wenn in der Folge Kampf und Chaos drohten. Es bliebe uns dann vernünftigerweise nichts Anderes übrig, als das Falsche zu akzeptieren. Außerdem passt eine so nüchterne, rein instrumentelle Begründung nicht zu dem Pathos, mit dem wir Toleranz als Tugend abfeiern.
Sie sollte sich direkt erklären lassen, etwa so: Es liegt ein eigener Wert darin, wenn Menschen sich die Dinge selbst überlegen und entscheiden, was sie für gut und richtig halten – auch dann, wenn sie das Falsche wählen. Das steckt hinter dem (wohl fälschlich) Voltaire zugeschriebenen Zitat: „Ich teile Ihre Meinung überhaupt nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“
Besonders tolerante Rassisten
Sicher gelandet? Von wegen: Denken wir an einen Rassisten, der Schwarze für minderwertig hält, es als Übel ansieht, wenn sie mit Weißen Paare bilden – aber gemischte Ehen akzeptiert. Sollen wir ihn loben, weil er tolerant ist? Noch dazu umso toleranter, je übler seine Ansichten sind? Dem entkommen wir nur, wenn wir mit dem Philosophen John Horton fordern: Der Einwand, den jemand gegen das hat, was er toleriert, darf selbst „nicht unvernünftig oder wertlos sein“. So packen wir aber schon ziemlich viel moralische Zusatzlast in den anfangs so leicht wirkenden Toleranz-Rucksack.
Damit kommen wir zur letzten, besonders irritierenden Tücke: „Sei tolerant“steht nicht als schlichte Forderung für sich. Sie ist eingebettet in einen moralischen Rahmen: die Werte der Aufklärung, des Liberalismus, der Autonomie des Individuums. Was, wenn andere sie nicht teilen, wir sie ihnen „aufzwingen“, als „westliche Werte“des „globalen Nordens“? Wir hören sie höhnen: In Wahrheit seid doch ihr die Intoleranten! Nur ein Trick, eine Verdrehung? Es zeigt sich: Toleranz ist kein lockeres Laissez-Faire. Sie erfordert ein Arsenal an Argumenten. Aber das sollte sie uns wert sein.