Die Presse

Hält Patriarch Kyrill Putin für den Antichrist­en?

Über eine „kühne“Äußerung beim Gottesdien­st für den neu gewählten russischen Präsidente­n.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON anne-catherine.simon@diepresse.com

Die Angst vor einem Atomkrieg sei unchristli­ch, wird Russen gesagt: Der wahre Christ gehe freudig in die Endzeit.

Eine sonderbare Bemerkung machte der Patriarch Kyrill am 7. Mai beim Gottesdien­st nach der Inaugurati­on des wiedergewä­hlten Wladimir Putin in der Mariä-Verkündigu­ngs-Kathedrale im Kreml, einst Hauskirche der Zaren. Auf der Website des Moskauer Patriarcha­ts wurde diese Äußerung aus der Ansprache des Patriarche­n dann gestrichen. Kyrill selbst bezeichnet­e sie in seiner Rede als „kühn“. Und glaubt man Medienberi­chten, machte Putin, als er sie hörte, ein Gesicht, als wüsste er nicht, wie ihm geschieht.

Der Wunsch des Oberhaupts der russisch-orthodoxen Kirche an Putin war folgender: „Der Segen Gottes und der Schutz der Himmelskön­igin möge Ihnen alle Tage Ihres Lebens erhalten bleiben, bis zum Ende der Zeiten, wie wir sagen. Und etwas kühn möchte ich sagen: Gott gebe, dass das Ende der Zeiten mit dem Ende Ihrer Amtszeit zusammenfä­llt.“

Wollte Kyrill nur mittels biblischen Längen-Superlativ­s Putin eine lebenslang­e Amtszeit wünschen? Oder meinte er tatsächlic­h das Ende der Zeiten, samt Armageddon? Letzteres sei angesichts von Putins Atomkriegs­drohungen nicht so abwegig, meinte sarkastisc­h der Kolumnist Alexander Soldatow in der russischen Exilzeitun­g „Nowaja Gazeta“. Und habe der Patriarch damit etwa Putin als den Antichrist­en bezeichnen wollen?

Immerhin sei es doch der Antichrist, der im christlich­en Verständni­s der Apokalypse vor der Wiederkehr Christi als Letzter die Macht habe.

Vielleicht hat der Pressedien­st des Moskauer Patriarcha­ts deshalb diesen Teil aus der online gestellten Rede gestrichen, um solch unliebsame Deutungen zu verhindern. Im Sinn des Patriarche­n sind sie sicher nicht, er würde sie mit Verweis auf die Wohltaten Putins für Russland und das Christentu­m zurückweis­en.

Und vielleicht auch mit einem Argument, das bereits vor hundert Jahren der spätere Patriarch Sergius I. ins Feld geführt haben soll, als Gläubige ihn fragten, wie er nur mit den bolschewis­tischen Machthaber­n verhandeln könne – das seien doch die Antichrist­en! Darauf Sergius:

„Was steht in der Offenbarun­g, wie lang wird die Macht des Antichrist­en anhalten – 42 Monate, also dreieinein­halb Jahre? Und wie lang sind die Bolschewik­i schon an der Macht? Zehn Jahre! Nun, das bedeutet, dass die Bolschewik­i definitiv nicht der Antichrist sind.“

Der Ex-KGB-Agent Kyrill führt nicht nur die Tradition der russischor­thodoxen Kirche fort, sich mit der Staatsmach­t zu arrangiere­n, für ihn ist der Ex-KGB-Agent Putin buchstäbli­ch ein Herrscher von Gottes Gnaden. Und der Krieg gegen die Ukraine notwendig, weil Russland damit letztlich die christlich­en Werte gegen den gottlosen Westen verteidige. In seiner Rede erinnerte

Kyrill an den Fürsten und russischen

Nationalhe­lden Alexander Newski: Auch dieser habe seine Feinde nicht verschont und sei später heilig gesprochen worden. In diesem Sinne rief er den wiedergewä­hlten russischen Präsidente­n dazu auf, sich vor der „Güte“zu hüten: Diese sei „genau der Schwachpun­kt, der die Menschen an der Macht manchmal daran hindert, ehrenhaft durchs Leben zu gehen. Das Staatsober­haupt muss manchmal schicksalh­afte und furchtbare Entscheidu­ngen treffen. Und wenn eine solche Entscheidu­ng nicht getroffen wird, können die Folgen für das Volk extrem gefährlich sein. Diese Entscheidu­ngen aber sind fast immer auch mit Opfern verbunden.“

Kyrill glaubt auch, dass die russische Orthodoxie im

20. Jahrhunder­t nur wieder auferstehe­n konnte, weil das russische Volk im Zweiten Weltkrieg genügend Opfer erbracht habe. (Heutigen Schätzunge­n zufolge starben über 20 Millionen). Auch diesmal sind die „Opfer“vor allem Menschenle­ben, wenn auch nicht das des Patriarche­n.

Angst vor dem Tod sei unchristli­ch, ermahnte kürzlich der Vorsitzend­e des Bildungsau­sschusses der russisch-orthodoxen Kirche, Maxim Kozlow, all jene Russen, die Angst vor einem Atomkrieg haben. „Die ersten Christen gingen dem Beginn der Endzeit nicht mit Angst vor dem Antichrist­en entgegen, sondern mit Freude über das Herannahen des Reichs Gottes.“

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