Hält Patriarch Kyrill Putin für den Antichristen?
Über eine „kühne“Äußerung beim Gottesdienst für den neu gewählten russischen Präsidenten.
Die Angst vor einem Atomkrieg sei unchristlich, wird Russen gesagt: Der wahre Christ gehe freudig in die Endzeit.
Eine sonderbare Bemerkung machte der Patriarch Kyrill am 7. Mai beim Gottesdienst nach der Inauguration des wiedergewählten Wladimir Putin in der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml, einst Hauskirche der Zaren. Auf der Website des Moskauer Patriarchats wurde diese Äußerung aus der Ansprache des Patriarchen dann gestrichen. Kyrill selbst bezeichnete sie in seiner Rede als „kühn“. Und glaubt man Medienberichten, machte Putin, als er sie hörte, ein Gesicht, als wüsste er nicht, wie ihm geschieht.
Der Wunsch des Oberhaupts der russisch-orthodoxen Kirche an Putin war folgender: „Der Segen Gottes und der Schutz der Himmelskönigin möge Ihnen alle Tage Ihres Lebens erhalten bleiben, bis zum Ende der Zeiten, wie wir sagen. Und etwas kühn möchte ich sagen: Gott gebe, dass das Ende der Zeiten mit dem Ende Ihrer Amtszeit zusammenfällt.“
Wollte Kyrill nur mittels biblischen Längen-Superlativs Putin eine lebenslange Amtszeit wünschen? Oder meinte er tatsächlich das Ende der Zeiten, samt Armageddon? Letzteres sei angesichts von Putins Atomkriegsdrohungen nicht so abwegig, meinte sarkastisch der Kolumnist Alexander Soldatow in der russischen Exilzeitung „Nowaja Gazeta“. Und habe der Patriarch damit etwa Putin als den Antichristen bezeichnen wollen?
Immerhin sei es doch der Antichrist, der im christlichen Verständnis der Apokalypse vor der Wiederkehr Christi als Letzter die Macht habe.
Vielleicht hat der Pressedienst des Moskauer Patriarchats deshalb diesen Teil aus der online gestellten Rede gestrichen, um solch unliebsame Deutungen zu verhindern. Im Sinn des Patriarchen sind sie sicher nicht, er würde sie mit Verweis auf die Wohltaten Putins für Russland und das Christentum zurückweisen.
Und vielleicht auch mit einem Argument, das bereits vor hundert Jahren der spätere Patriarch Sergius I. ins Feld geführt haben soll, als Gläubige ihn fragten, wie er nur mit den bolschewistischen Machthabern verhandeln könne – das seien doch die Antichristen! Darauf Sergius:
„Was steht in der Offenbarung, wie lang wird die Macht des Antichristen anhalten – 42 Monate, also dreieineinhalb Jahre? Und wie lang sind die Bolschewiki schon an der Macht? Zehn Jahre! Nun, das bedeutet, dass die Bolschewiki definitiv nicht der Antichrist sind.“
Der Ex-KGB-Agent Kyrill führt nicht nur die Tradition der russischorthodoxen Kirche fort, sich mit der Staatsmacht zu arrangieren, für ihn ist der Ex-KGB-Agent Putin buchstäblich ein Herrscher von Gottes Gnaden. Und der Krieg gegen die Ukraine notwendig, weil Russland damit letztlich die christlichen Werte gegen den gottlosen Westen verteidige. In seiner Rede erinnerte
Kyrill an den Fürsten und russischen
Nationalhelden Alexander Newski: Auch dieser habe seine Feinde nicht verschont und sei später heilig gesprochen worden. In diesem Sinne rief er den wiedergewählten russischen Präsidenten dazu auf, sich vor der „Güte“zu hüten: Diese sei „genau der Schwachpunkt, der die Menschen an der Macht manchmal daran hindert, ehrenhaft durchs Leben zu gehen. Das Staatsoberhaupt muss manchmal schicksalhafte und furchtbare Entscheidungen treffen. Und wenn eine solche Entscheidung nicht getroffen wird, können die Folgen für das Volk extrem gefährlich sein. Diese Entscheidungen aber sind fast immer auch mit Opfern verbunden.“
Kyrill glaubt auch, dass die russische Orthodoxie im
20. Jahrhundert nur wieder auferstehen konnte, weil das russische Volk im Zweiten Weltkrieg genügend Opfer erbracht habe. (Heutigen Schätzungen zufolge starben über 20 Millionen). Auch diesmal sind die „Opfer“vor allem Menschenleben, wenn auch nicht das des Patriarchen.
Angst vor dem Tod sei unchristlich, ermahnte kürzlich der Vorsitzende des Bildungsausschusses der russisch-orthodoxen Kirche, Maxim Kozlow, all jene Russen, die Angst vor einem Atomkrieg haben. „Die ersten Christen gingen dem Beginn der Endzeit nicht mit Angst vor dem Antichristen entgegen, sondern mit Freude über das Herannahen des Reichs Gottes.“