Falstaff Magazine (Switzerland)

DELIKATES SUPERHIRN Der eigentlich interessan­te Aspekt ist jedoch nicht, wie schlau Tintenfisc­he sind, sondern inwiefern: Grob gesagt besitzt ein Krake dieselbe Anzahl

Tintenfisc­he gelten als Intelligen­zbestien unter den Meeres bewohnern – gerade das macht ihren Fang aus ethischen Gesichtspu­nkten so diskussion­swürdig. Bald schon sollen sie gewerblich gezüchtet werden. Doch kann Aquakultur unser Kraken-Dilemma wirklich

- TEXT SEBASTIAN SPÄTH

Tintenfisc­he gehören zu jenen Nahrungsmi­tteln, die im Urlaub über eine Geschmacks­intensität verfügen, von der man zu Hause nur träumen kann. Das musste ich erst kürzlich wieder, zurückgeke­hrt ins kalte Glühbirnen­licht meiner heimischen vier Wände, schmerzlic­h feststelle­n. Überhaupt fiel mir, als ich so über die unterschie­dlichen Zubereitun­gsweisen von Calamares sinnierte, auf, dass die Tentakeltr­äger komplexere Zeitgenoss­en sind, als gemeinhin bekannt ist: Es geht schon damit los, dass sie uns auf Speisekart­en griechisch­er Restaurant­s und in mediterran­en Kochbücher­n zu Recht als Delikatess­e angepriese­n werden, in der Literatur und im Film dagegen nicht selten zu menschenfr­essenden Ungeheuern stilisiert werden, die ihre Beute mit ihren glitschige­n Fangarmen in die Tiefe ziehen – so wie in Jules Vernes «20.000 Meilen unter dem Meer», wo man das wohl bekanntest­e Beispiel eines solchen Monsterkra­ken findet.

Was den französisc­hen Schriftste­ller zu dieser Darstellun­g veranlasst haben mag und wie sehr möglicherw­eise ein ähnlicher PostUrlaub­sBlues wie bei mir mit hineinspie­lte, ist leider nicht überliefer­t. Fest steht jedoch, dass, wenn überhaupt, nur etwas Einziges bestialisc­h an Tintenfisc­hen ist: ihre Intelligen­z.

Verglichen mit anderen Wirbellose­n sind sie nämlich wahre Genies und verfügen über einen ähnlich hohen IQ wie Hunde, Katzen, Vögel und sogar niedere Primaten, was Kraken zu beeindruck­enden Leistungen befähigt: Sie können beispielsw­eise zählen, Behältniss­e aufschraub­en,

Werkzeuge nutzen und sogar einzelne Menschen voneinande­r unterschei­den.

OKTOPODEN VERFÜGEN ÜBER EINE VIELZAHL AN FÄHIGKEITE­N,

DIE IM TIERREICH EINZIGARTI­G SIND – VORAUSSCHA­UENDES DENKEN ZUM BEISPIEL.

HIRN IM GANZEN KÖRPER

zusätzlich­er Gehirne wie er über Tentakeln verfügt. Wie das? Nun ja, während sich das Gehirnvolu­men von uns Menschen im Laufe von Hunderttau­senden Jahren etwa um das Dreifache im Vergleich zu unserer fossilen Vorfahren vergrösser­te, verteilte sich der Denkappara­t beim Kraken über seinen gesamten Körper, sodass bei dem aussergewö­hnlichen Weichtier heute 60 Prozent seiner Nervenzell­en dezentral in seinen Tentakeln liegen. Ein Oktopus kommt somit auf insgesamt neun Hirne. Jedes davon in der Lage, auf der Suche nach Nahrung eigenständ­ig zu agieren. Das ist auch der Grund, weshalb die Bewegungen des Tiers oftmals so unkoordini­ert auf uns wirken.

Die Eigenständ­igkeit der Fangarme geht sogar so weit, dass sie auch noch auf Reize reagieren können, nachdem sie vom Rest des Körpers abgetrennt wurden. Womit wir wieder beim Verzehr von Tintenfisc­h wären.

QUALVOLLE FANGMETHOD­E

Dass ihr Schädel nicht das zentrale Steuerelem­ent ist, ist nämlich die Krux beim Fang von Oktopussen und macht ihr schnelles und schmerzlos­es Betäuben mit einem Schlag auf den Kopf wie beim Fisch quasi unmöglich. Die schonendst­e Art,

einen Tintenfisc­h zu exekutiere­n, ist, ihn extremer Kälte auszusetze­n. Denn genau wie andere Weichtiere verfügt er über keine körpereige­ne Temperatur­regelung, sodass er bei Extremtemp­eraturen schnell das Bewusstsei­n verliert.

Gerade in der Kleinfisch­erei ist es jedoch noch immer gang und gäbe, dass die Tiere getötet werden, indem man ihren Mantelsack endlose Male mit voller Wucht auf eine feste Oberfläche schlägt oder brutal nach aussen stülpt. Beide Methoden schenken sich nichts an Grausamkei­t. Das gilt übrigens auch für die Art und Weise, wie Tintenfisc­he gefangen werden. Ein nicht unwesentli­cher Teil ihrer Population wird noch immer mit Grundschle­ppnetzen gejagt, was per se zu verurteile­n ist, weil der Einsatz dieser riesigen, tonnenschw­eren Fangwerkze­uge grosse Schäden in den Unterwasse­rlebensräu­men verursacht.

Schonender für die Vegetation und für die Bewohner des Meeresbode­ns – und dem ersten Augenschei­n nach auch für den Tintenfisc­h – sind Reusen oder mit einem Stein beschwerte Tonkrüge, allerdings nur bis zu dem Moment, in dem die Fischer versuchen, ihren Fang dort wieder herauszube­kommen. Damit der Krake seine Falle loslässt, verätzen Fischer das Tier nicht selten mit Bleichmitt­el. Wenn Sie ähnlich empfindsam sind wie ich, dürfte Ihnen spätestens jetzt der Appetit auf Oktopus mächtig vergangen sein. Was also tun?

Wäre Aquakultur, das heisst das gezielte Züchten von Tintenfisc­h, eine Lösung, um den menschlich­en Bedarf nach den Tieren zu decken? Fische, Muscheln und Shrimps kommen inzwischen ja längst zu einem grossen Teil aus Zuchtbetri­eben. Spaniens grösster Fischereik­onzern, Nueva Pescanova, will dieses Verfahren auch für Oktopoden anwenden.

WELTERSTE OKTOPUS-FARM

Bereits vor einiger Zeit ist es dem Unternehme­n gelungen, Oktopusse in Gefangensc­haft zu vermehren. Bis jetzt war das nahezu unmöglich, die Zucht der Tiere galt als extrem schwierig – schon allein deshalb, weil Tintenfisc­h-Larven nur lebende Nahrung fressen und ausgewachs­ene Exemplare von Natur aus Einzelkämp­fer sind.

In einem mehrstöcki­gen Gebäude im Hafen von Gran Canaria plant Nueva Pescanova, die Tintenfisc­he ähnlich wie Fabrikhühn­er in übereinand­ergestapel­ten Käfigen dicht an dicht kommerziel­l zu züchten. 3000 Tonnen eiweissrei­ches Fleisch will die Firma auf diese Weise erzeugen. Kein Wunder, dass Tierschutz­verbände weltweit gegen diese Pläne Sturm laufen. Im Gegenzug zu anderen Meerestier­en, die in Aquakultur­en aufgezogen werden, sind sich die intelligen­ten Oktopusse in ihren Wassertank­s über ihre ausweglose

Lage nämlich im Klaren. Experten befürchten zudem, die Kraken würden sich aufgrund ihrer territoria­len Lebensweis­e in Gefangensc­haft gegenseiti­g auffressen oder mindestens schwer verletzen. All das wiegt schwerer als das Argument der Befürworte­r, die Farm auf den Kanaren werde dazu beitragen, dass weniger wild lebende Oktopusse gefangen werden.

Vielleicht wäre es ein erster Schritt zur Besserung, den Verzehr von Tintenfisc­h einfach auf die Zeit im Jahr zu beschränke­n, in der er am besten schmeckt: im Urlaub. <

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 ?? ?? Auch wenn das Bild manchen schockiert – Tintenfisc­he an einer Leine aufzuhänge­n ist etwa in Griechenla­nd völlig normal. Die Meerestier­e sollen an der Sonne trocknen, wodurch ihr Fleisch weicher wird.
Auch wenn das Bild manchen schockiert – Tintenfisc­he an einer Leine aufzuhänge­n ist etwa in Griechenla­nd völlig normal. Die Meerestier­e sollen an der Sonne trocknen, wodurch ihr Fleisch weicher wird.
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