Der Allmächtige und die frühe Hoffnung
Die Journalistin hat sich auf die Spuren von Recep Tayyip Erdog˘an begeben und eine intensive und sehr differenzierte Biografie erarbeitet. Sie erklärt, warum er nun alles an sich reißt.
Recep Tayyip Erdog˘an ist derzeit im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit. Erst kam der Flüchtlingsdeal mit der EU, dann folgte der Putschversuch gegen den türkischen Präsidenten und nun schaut die Welt voller Sorge darauf, wie Erdog˘an die Demokratie in seinem Land Schritt für Schritt abschafft.
Eine Antwort darauf, warum der Präsident so hart reagiert, findet sich in einer Biografie, die vor dem Putsch erschienen ist. Die Journalistin Çig˘dem Akyol zeichnet ein sehr differenziertes Bild von dem Mann, der 2003 beim Amtsantritt als Ministerpräsident als großer Hoffnungsträger galt – und dies in den ersten Jahren mit großen Erfolgen nach einer zehrenden Wirtschaftskrise auch erfüllte. Zudem beschnitt er die Rechte des Militärs, was auch in der Europäischen Union mit Wohlwollen aufgenommen wurde, immerhin war der Militärputsch von 1980 und die Dominanz der Generäle bis 1989 noch sehr präsent. 2004 wurde er sogar als erster Türke als „Europäer des Jahres“geehrt und im Jahr 2011 nach seiner dritten Wiederwahl kürte ihn das „Time Magazine“auf dem Titelcover zur Person des Jahres.
Doch dann ermüdete der Reformprozess und Erdog˘an mauserte sich immer stärker zu einem Alleinherrschertyp. Akyol hält im Kapitel „Der Allmächtikurz ge“fest: „Es gibt Politiker, die lassen sich gerade durch das antreiben, was ihnen fehlt oder was sie zu viel haben – Respekt, Bewunderung, Selbstzweifel –, bei Erdog˘an ist es die Gier nach Macht, die er nicht in den Griff bekommt“, schreibt Akyol und bilanziert dann: „Diesen Dämon wird er nicht bezwingen können.“Er sei noch längst nicht am Zenit seiner Karriere angekommen. Im Jahr 2023 zum 100. Geburtstag der Republik wolle Erdog˘an den Türken vom Balkon seines Palastes zuwinken.
Die Journalistin, die seit 2014 in Istanbul für eine Reihe deutschsprachiger Medien und die APA berichtet, hat sich eingehend mit der Person beschäftigt und schreibt kenntnisreich und weder pauschalisierend noch vorverurteilend über Erdog˘an. Auch wenn niemand in den Präsidenten hineinschauen kann, gibt Akyol eine Ahnung davon, was in ihm vorgeht.