Mittelmeer ist 2016tödlicher als je zuvor
EU-Kommission bestätigt wieder steigende Migrantenzahlen. Eine Studie stellt fest, dass auch das Risiko deutlich zugenommen hat.
Die Videos, die Italien gerade veröffentlicht hat, zeigen dramatische Bilder. Überfüllte Boote, die wenig seetauglich wirken, schaukeln bedrohlich auf den Wellen. Zumeist dunkelhäutige Männer mit Rettungswesten springen ins Wasser und schwimmen der Kamera entgegen. Weit und breit ist kein Land in Sicht. Rettung dagegen schon, denn die Videos stammen von der Küstenwache „Guardia Costiera“. Und die hat nun gemeldet, dass die Zahl der Bootsflüchtlinge oder -migranten wieder deutlich zugenommen hat.
Seit Anfang der Woche wurden nach Angaben der Marine 12.000 Menschen auf dem Mittelmeer aufgegriffen und an die italienische Küste gebracht. Allein am Montag seien 6908 Menschen auf dem Weg zwischen Libyen und Sizilien in 35 Einsätzen in Sicherheit gebracht worden. Die Menschen waren in 44 Schlauchbooten, acht kleinen Holzbooten und zwei größeren Fischerbooten unterwegs, sagte der ItalienSprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Flavio Di Giacomo.
die griechischen Behörden melden eine stark ansteigende Fluchtbewegung von der türkischen Küste aus über das Mittelmeer. 462 Menschen wurden am Montag und Dienstag als Neuankömmlinge registriert. In den Tagen davor kamen nach Behördenangaben durchschnittlich 74 Menschen an. Die Lage auf den Ägäis-Inseln spitzt sich dementsprechend wieder zu. In den Lagern auf Kos, Lesbos, Samos, Leros und Chios harren aktuell 12.200 Menschen aus, die Aufnahmeeinrichtungen sind aber nur für 7450 Menschen ausgelegt. Seit Inkrafttreten des EU-TürkeiDeals Mitte März dürfen keine Schutzsuchenden mehr auf das griechische Festland weiterreisen. „Wir beobachten das Phänomen und stehen in engem Kontakt mit den türkischen Behörden“, sagt ein Mitarbeiter des Krisenstabes. Man sei sich noch nicht sicher, ob der AnAuch
stieg mit dem guten Wetter zusammenhänge oder ein Signal der Türkei sei. Die Regierung in Ankara hatte zuletzt mehrfach betont, dass die Aufhebung der EU-Visumspflicht für ihre Staatsbürger eng mit dem Flüchtlingsabkommen zusammenhänge. Außenminister Mevlüt Çavu¸sog˘lu drohte bereits mit dem Ende des Paktes, weil man keinen Fortschritt mit der EU sehe.
Schon am Wochenende hatte der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, im Interview mit der „Welt am Sonntag“gesagt, der Migrationsdruck sei wieder „immens“. Er plane zudem im Oktober eine Art Stresstest für die EU-Außengrenzen nach dem Vorbild der Banken. Viele EU-Staaten signalisierten ihre Bereitschaft, um die Schwachstellen an den See-, Luftund Landgrenzen aufzudecken.
Mehr Tote als 2015
Weit dramatischer entwickelt sich die Lage aber in Italien und auf dem Weg dorthin. In diesem Jahr sind bereits 3165 Menschen bei der Überfahrt von Nordafrika aus ums Leben gekommen. Dies seien 509 mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, heißt es vom IOM. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt die Balkanroute
offen, während sie seit dem EU-Türkei-Deal weitgehend an Bedeutung verloren hat.
Auf den verschiedenen Flüchtlingsrouten kamen laut IOM bis Ende August insgesamt 272.070 Menschen nach Europa, davon 163.105 Menschen nach Griechenland. 2015 waren es bis zu diesem Zeitpunkt bereits 354.618, davon kamen 234.357 Menschen nach Griechenland. Der Rest der Migranten und Flüchtlinge landete in Italien.
Die EU-Kommission hat den aktuellen Anstieg auf der ItalienRoute bestätigt. In Brüssel vermutet man hinter den höheren Zahlen, dass Schlepper immer mehr Flüchtlinge in einzelne Boote stecken. Die IOM hat auch festgestellt, dass die Flucht über das Mittelmeer im Vergleich zum Vorjahr gefährlicher geworden ist. Die Studie führte die Organisation gemeinsam mit der Universität York und der City University London durch. Die Daten zeigen, dass jeder 85. Migrant die Überfahrt im Verlauf des Jahres 2016 nicht überlebt habe. Dagegen sei im Vorjahr jeder 276. ums Leben gekommen, sagt Frank Laczko, Leiter des IOM-Datenzentrums, dem europäischen Zeitungsnetzwerk LENA.
Doch die Zahlen seien auch Ausdruck der mangelnden Beweitgehend reitschaft der EU, das wirkliche Ausmaß dieser Katastrophe offenzulegen, bemängelt das IOM. „Hinter der augenscheinlichen Katastrophe mit Schiffswracks und Leichen im Mittelmeer verbirgt sich eine unsichtbare, bei der Tote nicht gefunden werden und nicht genug unternommen wird, um Leichen zu identifizieren und Hinterbliebene zu benachrichtigen“, sagt Studienleiter Simon Robins von der Universität in York dem „ZDF“.
Den Vorschlag von Kanzler Christian Kern, Asylsuchende von den Landesgrenzen zurückschicken zu können, der von Dänemark unterstützt wird, wollte die EU-Kommission nicht kommentieren. Allerdings spreche man nach ihren Worten mit den beiden Ländern über diese Frage, sagte eine Sprecherin. Dies würde auch bedeuten, dass im Mittelmeer aufgegriffene Migranten und Flüchtlinge an die nordafrikanische Küste zurückgebracht werden könnten.
Eines allerdings macht die italienische Küstenwache inzwischen konsequent. Nach der Aufnahme der Geretteten werden die Schlepperboote auf offener See in Flammen gesetzt und versenkt. Auch das dokumentierte sie mit den Videos.