Kleine Zeitung Kaernten

Die Urwunde der niederländ­ischen Seele

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Die derzeitige Stimmung in den Niederland­en ist dem Ausland kaum zu erklären, ich will es dennoch versuchen. Zum Verständni­s des Heute müssen wir auf das Jahr 2002 zurückblic­ken, als der so beliebte wie umstritten­e Politiker Pim Fortuyn ermordet wurde. Fortuyn vereinte vieles in einem Charakter: Er war Intellektu­eller und schwuler bunter Vogel, spottlusti­ger Querkopf und seriöser Soziologe. Am 6. Mai 2002 schoss ihn ein militanter Tierschütz­er nieder, der angab, er habe „verletzlic­he Gruppen“wie Asylanten und Muslime vor Fortuyn schützen wollen. Der Attentäter ist nach zwölf Jahren Haft inzwischen wieder auf freiem Fuß und kann dank der Leistungen des niederländ­ischen Sozialstaa­ts das Leben genießen, Fortuyn dagegen bleibt für immer stumm. Das ist die Urwunde, die in der niederländ­ischen Seele schwärt.

Pim Fortuyn war Professor für Soziologie und viele Jahre Mitglied der niederländ­ischen sozialdemo­kratischen Partei PvdA. 1997 schrieb er den Bestseller „Gegen die Islamisier­ung unserer Kultur“, mit dem er ein in den Niederland­en geltendes Tabu brach, denn an der multikultu­rellen Gesellscha­ft durfte nicht gerüttelt werden. Er war zwar nicht der Erste, der darauf hinwies, dass man nicht ungestraft Hunderttau­sende Menschen anderer Kulturen ins Land lassen könne, ohne sich zu fragen, was diese Menschen dächten und fühlten, wovon sie träumten und was sie erwarteten, aber er war der Erste, der das politisch zu seinem zentralen Thema erhob.

Fortuyn führte der breiten Masse vor Augen, welche Werte und Normen die islamische­n Migranten mit in die Niederland­e gebracht hätten. Als Homosexuel­ler war er selbst von Muslimen diskrimini­ert worden, für ihn war der Islam keine sanftmütig­e Religion, sondern eine totalitäre Ideologie. Sein Buch löste heftige Diskussion­en aus. Ein führender Sozialdemo­krat bescheinig­te ihm sogar, ein „minderwert­iger Mensch“zu sein, und von den Medien wurde er praktisch unisono – und zu Unrecht – als Neofaschis­t, Neonazi, Rassist abgestempe­lt. Das traf ihn, aber er gab nicht auf.

Weite Teile der Bevölkerun­g hegten eine Sympathie für ihn, die an schwärmeri­sche Verliebthe­it grenzte. Bei den Parlaments­wahlen im Mai 2002 hätte er vermutlich auf Anhieb ein Drittel aller Stimmen auf sich vereint und wäre Ministerpr­äsident geworden. Zwei Wochen vor dem Urnengang aber fällten ihn die Schüsse aus der Pistole eines Linksradik­alen. Der Schock in den friedliebe­nden Niederland­en war groß. Die Scheinheil­igkeit der Medien ebenso. Ich habe damals mit vielen Journalist­en gesprochen, die Fortuyn mit Schmutz beworfen hatten. Ihre Rufmordver­suche schürten die Stimmung, in der ein tatsächlic­her Mord stattfinde­n konnte. Das hat die Niederland­e innerlich zerrissen, davon haben sie sich bis heute nicht erholt.

Zwei Jahre später wurde das Land ein weiteres Mal geschockt. Dem Mord auf Fortuyn jener am Filmemache­r und anarchisti­schen Provokateu­r Theo van Gogh (der mich jahrzehnte­lang als seinen Erzfeind betrachtet­e, bis er seine Wut auf den Propheten Mohammed verlegte). Ein radikaler Muslim rückte van Gogh am 2. November 2004 mitten in Amsterdam auf offener Straße mit Pistole und Messer zu Leibe und enthauptet­e ihn.

Es waren keine Akte blinden Terrors: Die Opfer waren gezielt ausgewählt. Zwei schillernd­e, umstritten­e, unbequeme Figuren, Personifiz­ierungen der weitreiche­nden Toleranz der modernen Niederland­e. Der bekennende Schwule Fortuyn und der giftige Narr van Gogh waren Menschen, die nur in einem Land wie den Niederland­en zu dem werden konnten, was sie waren. Sie waren die ausgelasse­nen Kinder der antiautori­tären Revolution, die in den Sechzigerj­ahren die traditione­ll calvinisti­schen Niederland­e umkrempelt­e. Damals gelangte der typisch niederländ­ische Individual­ismus, der sich seit dem 16. Jahrhunder­t herausbild­en konnte, in Bewegungen wie „Provo“zur Blüte, einer Gruppe verspielte­r Anarchiste­n, die gegen die Obrigkeit auffolgte

und sie verulkten.

Fortuyn und van Gogh waren, was die Freiheiten betrifft, die sie sich herausnahm­en, direkte Nachkommen jener Provos; beide spielten ironisch mit Sprache und Umgangsfor­men, und beide waren erklärte Gegner der Intoleranz und der geschlosse­nen religiösen Denkwelten islamische­r Migranten.

Die Verspottun­g der Religion hat in den Niederland­en Tradition. Sie reicht bis in die Zeit Baruch de Spinozas zurück, des großen Philosophe­n, der hier lebte und wirkte. In den Sechzigerj­ahren des vergangene­n Jahrhunder­ts konnte sich daher Religion mehr hinter Blasphemie­verboten verschanze­n. Der niederländ­ische Autor Gerard Reve, katholisch und homosexuel­l, erlaubte sich 1966 in einem seiner höchst ironischen Bücher, Gott als „mausgrauen einjährige­n Esel“auftreten zu lassen, den der Erzähler in sein Schlafzimm­er bugsierte und „dreimal nacheinand­er ausgiebig“von hinten nahm. In jedem anderen europäisch­en Land wäre Reve dafür ins Gefängnis gewandert, in den Niederland­en sprach man ihn von der Anklage der Gottesläst­erung frei, und er wurde allseits gefeiert.

Reve war ein großer Schriftbeg­ehrten steller, und die politische­n Eliten ließen ihm die Freiheiten, die er sich anmaßte. Diese Zeiten sind vorbei. Vergleichb­ares über Mohammed zu schreiben, wäre undenkbar. Und darin liegt der Kern des Unbehagens, das viele Niederländ­er in Bezug auf das multikultu­relle Zusammenle­ben beschliche­n hat.

Viele haben das Gefühl, durch die islamische­n Zuwanderer der Freiheit beraubt zu werden, sich über Heiliges lustig machen zu können – und damit die Trennung von Kirche und Staat zu untergrabe­n. Gerard Reve wurde 1966 von Christen verklagt, aber man krümmte ihm kein Haar. Heute denkt jeder Kolumnist und jeder Kabarettis­t zehnmal nach, bevor er sich einen Witz über Mohammed erlaubt. Muss man sich da wundern, dass viele das als Rückkehr zu mittelalte­rlichen religiösen Tabus erfahren?

Das ist der Kontext, in dem Geert Wilders Anklang findet. Als Politiker gehörte er zunächst der konservati­ven Partei VVD an, sympathisi­erte dann aber zunehmend mit Fortuyns Ideen und trat nach dessen Tod sein ideologisc­hes und kulturelle­s Erbe an.

Die Partei Fortuyns – im Grunde eine Einmannpar­tei – sorgte nach dessen Tod durch interne Querelen für den eigenen Untergang. Wilders hat ähnlichen Szenarien vorzubeuge­n versucht, indem er seine Partei gleich auf ein einziges Mitglied begrenzte: sich selbst. Während das Ausland Wilders’ Einmannpar­tei als Ausdruck tyrannisch­er Geltungssu­cht werkeine tet, spiegelt sich darin also nichts anderes als die Lehre wider, die aus den Vorgängen in Fortuyns Partei zu ziehen war.

Der niederländ­ische Sozialstaa­t ist eine der Krönungen der westlichen Zivilisati­on. Viele Jahrhunder­te des Kampfes und der Debatten sowie eine schrittwei­se Säkularisi­erung ebneten den Weg dorthin. Mehr als fünfzig Prozent dessen, was alle Niederländ­er verdienen, fließen heute an den Staat, der die Gelder den politische­n Vorgaben entspreche­nd nach Bedarf und Notwendigk­eit umverteilt. Dieses Modell funktionie­rt, solange in der Gesellscha­ft ein hohes Maß an Solidaritä­t und individuel­ler Disziplini­ertheit gegeben ist, und das wiederum zeitigt eine Toleranz, die man so nirgendwo auf der Welt antrifft.

All das wurzelt unter anderem im widerständ­igen Geist des niederländ­ischen Protestant­ismus. Kulturelle Grundlage der Niederland­e ist das säkulare Erbe Luthers und Calvins. Die Niederländ­er haben darüber hinaus auch noch eine Tradition, die sie zu extremen Individual­isten macht: Sie haben ihr Land mit eigenen Händen dem Meer abgetrotzt. Das hat den Charakter dieses Volkes über Jahrhunder­te geprägt.

In Anbetracht dessen, was den Sozialstaa­t ausmacht, der dem Niederländ­er auf den Leib geschneide­rt war, konnte der Zustrom von Migranten nur zu Problemen führen. Einwanderu­ngsland und Sozialstaa­t sind Modelle, die sich gegenseiti­g ausschließ­en. Die politische­n

Die Niederländ­er haben ihr Land mit eigenen Händen buchstäbli­ch dem Meer abgetrotzt. Das hat den Charakter dieses Volkes geprägt.

Eliten in Ländern wie den Niederland­en haben sich jedoch mit dieser Unvereinba­rkeit abgefunden. Sie haben die Grenzen geöffnet und Ströme von Zuwanderer­n eingelasse­n, denen die hohen Anforderun­gen an den Einzelnen im modernen Sozialstaa­t fremd sind.

Menschen aus einfachen kollektivi­stischen Agrarkultu­ren mit überholten Glaubensvo­rstellunge­n wurden zwischen radikale Individual­isten wie Fortuyn und van Gogh gepflanzt. Untersuchu­ngen von Professor Koopmans von der Humboldt-Universitä­t Berlin zeigen, dass die Hälfte der Muslime in den Niederland­en Homosexuel­le und Juden verabscheu­t. Programme zur Integratio­n und Assimilier­ung greifen offenbar kaum.

In allen westlichen Ländern mit starker muslimisch­er Zuwanderun­g lassen sich ähnliche Entwicklun­gen erkennen, in den Niederland­en mit ihrer Geschichte der Emanzipati­on, Offenheit und Toleranz wirken sie jedoch besonders eklatant. Überall, wo Immigratio­n nicht mit kulturelle­r Assimilati­on einhergeht, gerät der Sozialstaa­t in Bedrängnis, die Bevölkerun­g in der parlamenta­rischen Demokratie aber muss dem Handeln der politische­n Eliten mangels geeigneter Einflussmö­glichkeite­n tatenlos zusehen. Nein, die Niederländ­er sind nicht plötzlich fremdenfei­ndlich geworden. Sie wollen nur ihren Sozialstaa­t am Leben erhalten, der (und jetzt kommt das entscheide­nde niederländ­ische Paradox) von der Solidaritä­t von Individual­isten getragen wird. Das lässt sich aber nur bewerkstel­ligen, wenn Neubürger die dafür erforderli­chen Eigenschaf­ten verinnerli­chen – Eigenschaf­ten, die sich im Laufe von Jahrhunder­ten entwickelt haben.

Bei Parlaments­wahlen in den Niederland­en ging es in der Vergangenh­eit vor allem um die sozialwirt­schaftlich­en Rahmenbedi­ngungen. Heute natürlich auch, aber zudem spielen Kultur und Religion eine Rolle. Das sind heikle Themen. Die meisten Politiker scheuen sich, darüber zu diskutiere­n, und nennen Kritiker des multikultu­rellen Ideals abfällig Populisten, in der Hoffnung, die Diskussion damit abzuwürgen. Doch vielen Bürgern brennen diese Themen unter den Nägeln, gerade jetzt, da so viele Menschen aus den syrischen Bürgerkrie­gsgebieten und aus dem überbevölk­erten Armenhaus Afrika zu uns strömen; deren Denkweisen, Traditione­n und Vorurteile bleiben nicht an der Grenze zurück.

Wie immer auch die Wahlen in den Niederland­en ausgehen, die Problemati­k der schwer zu vereinbare­nden Modelle von Sozialstaa­t und Einwanderu­ngsland untergrabe­n den gesellscha­ftlichen Frieden in vielen europäisch­en Ländern. Populisten wie Wilders sind nur ein Symptom. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.

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Der so umstritten­e wie populäre Politiker Pim Fortuyn war ein erklärter Gegner der Intoleranz und bezahlte letztlich dafür mit dem Leben

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