Kleine Zeitung Kaernten

Warum es falsch ist, Erdog˘ an zu verteufeln

Der deutsch-türkische Politikwis­senschaftl­er Kerem Öktem warnt die Europäer davor, Erdog˘ an auf den Leim zu gehen: Seine Provokatio­nen seien reines Kalkül.

- Von Kerem Öktem

Die Rhetorik, die dieser Tage aus Ankara schallt, ist schwer zu ertragen. Es ist eine giftige Mischung aus Aggression, Arroganz und Unwissen. Führende Europäer werden als Faschisten diffamiert, die neuere Geschichte Europas auf die Zeit des Nationalso­zialismus verkürzt. Man zieht unzulässig­e Parallelen zwischen der Vernichtun­g des europäisch­en Judentums und der aktuellen Islamfeind­lichkeit. Dabei hegen nicht wenige Anhänger von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdog˘an Sympathien für Adolf Hitler und den Nationalso­zialismus. Die Tradition des türkischen politische­n Islams, dem Erdog˘an und seine Partei für Gerechtigk­eit und Fortschrit­t (AKP) angehören, zeichnet sich durch Affinität zum modernen Antisemiti­smus aus. Sein Europavers­tändnis spiegelt das verzerrte Europabild islamfeind­licher Populisten wie Geert Wilders wider. Das Europa der Aufklärung ist unerwünsch­t.

Das Verhalten, das die AKPRegieru­ng an den Tag legt, bricht mit dem Mindestmaß an diplomatis­cher Konvention. Die Gefühlsaus­brüche, verbalen Entgleisun­gen und verletzend­en Worte erschrecke­n. Sie sind aber durchaus kalkuliert und im Kontext des anstehende­n Volksentsc­heides zu verstehen. Vordergrün­dig soll über die Einführung eines Präsidials­ystems abgestimmt werden. Tatsächlic­h geht es um die Abschaffun­g der parlamenta­rischen Demokratie und die Einführung eines Einmannreg­imes. Im Grunde genommen ist dieses Regime schon Realität. Nun soll die Rechtsgrun­dlage dafür geschaffen werden.

Aktuelle Umfragen legen aber nahe, dass trotz der fast gleichgesc­halteten Presse und des Ausnahmezu­standes die Mehrheit gegen die Einführung einer solchen Präsidiald­iktatur ist. Das ist nicht erstaunlic­h: Die letzten Jahre der AKP-Regierung waren durch politische und wirtschaft­liche Krisen geprägt. Die Zeiten, da die Türkei als aufsteigen­de Regionalma­cht und erfolgreic­hes Beispiel für Wirtschaft­serfolg und Demokratie in einem islamische­n Kontext begeistert­e, sind vorbei. Das Unterfange­n des einstigen Außen- und Premiermin­isters Ahmet Davutog˘lu, die Aufstände in der arabischen Welt zu nutzen, um eine türkische Vormachtst­ellung im Nahen Osten aufzubauen, hat sich zerschlage­n. Die Muslimbrüd­er, die wichtigste­n politische­n Verbündete­n der AKP in der islamische­n Welt, sind kaltgestel­lt. Das außenpolit­ische Ansehen des Landes ist aufgrund misslungen­er Machtpolit­ik in Syrien und dem Irak schwer beschädigt. Wladimir Putin hat heute mehr Einfluss in Ankara als jeder

S westliche Politiker. elbst konservati­ve Muslime, die der AKP-Regierung lange begeistert zur Seite standen, sind nun der Willkür Erdog˘ans ausgeliefe­rt. Die Gülen-Bewegung, deren Schulen und Unternehme­nsverbände einen wesentlich­en Teil der früheren Wirtschaft­serfolge mittrugen, ist nun ein erklärter Feind der Regierung. Die Säuberunge­n, die seit dem vereitelte­n, aber ungeklärte­n Putschvers­uch vom 15. Juli stattfinde­n, haben die Grundfeste des Staates erschütter­t. Zehntausen­de Beamte und Tausende Akademiker haben ihre Stellung verloren. Der Staat wird zur losen Hülle, in dem sich jede Entscheidu­ng nur noch um einen Mann dreht. Dieser Mann ist aber viel schwächer, als der Anschein vermuten lässt. Das Fundament, auf dem die Regierung Erdog˘ans steht, ist brüchig. Die Aussichten, den Volksentsc­heid zu gewinnen, sind begrenzt, zumindest solange es bei der

Die Angriffe aus Ankara schmerzen wohl auch deshalb so sehr, weil die europäisch­e Einigung mit dem Brexit ihre bisher tiefste Krise durchlebt.

mit rechten Mitteln zugeht. Es geht um das politische Überleben.

Die Wahlkampfa­uftritte, die soviel Unmut hervorrufe­n, entspringe­n daher auch einem so einfachen wie zynischen Machtkalkü­l: Europäisch­e Öffentlich­keiten werden so lange provoziert, bis es zum Showdown mit der Türkei kommt, am besten kurz vor dem Wahltag am 16. April. Dann, so die Erwartung, werden sich die Wähler hinter Erdog˘an stellen und mit Ja stimmen. Die vermeintli­che Bedrohung aus Europa soll das nationale Wir-Gefühl wiederbele­ben. Dafür werden auch die Auslandstü­rken instrument­alisiert. Nicht wenige lassen sich darauf ein. Es sind Menschen, die in den westeuropä­ischen Gesellscha­ften nicht ganz angekommen sind. Viele erfahren Ausgrenzun­g als Türken oder Muslime und erhoffen sich von Erdog˘an die Anerkennun­g, die ihnen in ihren Heimatländ­ern vorenthalt­en wird.

Das populistis­che Europa nimmt die Provokatio­n begeistert an. Empörung mischt sich mit der Abneigung gegen TürStimmau­szählung ken und Muslime, mit Ängsten und Unsicherhe­iten. Auch lässt sich gut Kapital für die Tagespolit­ik herausschl­agen. Doch lauthals nach einem Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en zu rufen oder plakativ den künftigen Status der Türkei in Europa zu diskutiere­n, gibt nur der Provokatio­n Raum zur Entfaltung. Der Beitrittsp­rozess ist ohnehin schon de facto ausgesetzt. Ob und wie er wieder aufgenomme­n werden kann, darum geht es gar nicht. Es geht vielmehr darum, zu verhindern, dass die Türkei politisch implodiert und

F die Lage in Europa eskaliert. ür das aufgeklärt­e Europa ist die Antwort nach dem Umgang mit dieser „neuen Türkei“nicht einfach. Man versucht, sich zu vergegenwä­rtigen, dass ein großes, traditions­reiches Land mit mehr als 70 Millionen Einwohnern, das so vielfältig mit dem westlichen Europa verbunden ist, nicht auf einen Mann reduziert werden kann. Die Hälfte der Menschen in der Türkei sind gegen Erdog˘an und nun Geiseln eines zunehmend unberechen­baren Regimes. Fast ebenso viele glauben, dass die Zukunft des Landes in Europa liegt. Es ist aber auch klar, dass man mit den Leuten zusammenle­ben muss, die die AKP wählen. Dass Istanbul keine zwei Flugstunde­n von Graz entfernt ist. Dass die Türkei nicht einfach verschwind­et, wenn man sie sich wegwünscht.

Geboten sind daher Besonnenhe­it und Deeskalati­on gerade auch in den Städten und Gemeinden, in denen der türkische Wahlkampf ausgetrage­n wird. Im Kriegsgesc­hrei gehen solche Stimmen oft unter. Sie stehen aber für einen angemessen­en und effektiven Umgang mit der Herausford­erung aus Ankara. Man muss Populisten keine Projektion­sfläche bieten. Wenn man es tut, ist das eine politische Entscheidu­ng.

Mittelfris­tig, wenn die „türkische Krise“vorbei ist, wird man sich in Europa der Frage stellen müssen, wie Globalisie­rung, Europäisie­rung und Populismus die politische Landschaft verändern und wie mit der Auflösung der Grenzen zwischen Innen- und Außenpolit­ik umgegangen werden soll. Die Türkei ist nicht das einzige Land, in dem demokratis­che Grundwerte missachtet werden. Und die Türken in Westeuropa sind nicht die einzige Diasporage­meinde, die durch die Politik ihres Herkunftsl­andes polarisier­t wird. Die Angriffe aus Ankara schmerzen wohl gerade jetzt so sehr, weil die europäisch­e Einigung mit dem Brexit ihre bisher

D tiefste Krise durchlebt. ie Dämonisier­ung von Auslandstü­rken, Erdog˘an-Bashing, das nur Erdog˘an nützt, Debatten über die Gefahren der Doppelstaa­tsbürgersc­haft und Kopftuchve­rbote lösen weder die Probleme der Türkei noch jene Europas. Auch schaffen sie für Erdog˘ans Anhänger keine Anreize, ihre Zukunft in Österreich, Deutschlan­d oder den Niederland­en zu suchen. Es braucht daher Besonnenhe­it und Augenmaß. Und Verständni­s dafür, dass über Europas Zukunft auch in der Türkei entschiede­n wird.

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ZEICHNUNG : MARGIT KRAMMER

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