Kleine Zeitung Kaernten

Melancholi­scher Ritt durch den wilden Osten

Famose Reiserepor­tagen: „Zwanzig Lewa oder tot“von Karl-Markus Gauß.

- Manuela Swoboda

I n der Flughafena­nkunftshal­le in Chisina˘u, Republik Moldau: Trauben wartender Greisinnen, Männer, Kinder. Junge Frauen stürmen auf sie zu, die in Italien oder Österreich als Pflegerinn­en oder Putzfrauen schuften und mit dem, was sie dort verdienen, ihre Familien zu Hause erhalten. Sie stürmen auf ihre Kinder zu, die sie seit Monaten nicht gesehen haben, erschrecke­n die Kleinen mit zu vielen Küssen und zu lautem Schluchzen, das zwischen Trauer und Freude pendelt. In vielen Dörfern des Landes leben heute nur noch Alte und Kinder, weil sich die arbeitsfäh­ige Generation großteils in den Westen oder nach Russland aufgemacht hat.

Später in Bulgarien: Ein Bettler, der sein rot und blau verfärbtes Bein entblößt und die Jacke über dem Bauch zur Seite schiebt, um das Plastiktäs­chchen herzuzeige­n, von dem ein Schlauch in die Hose führt: „Zwanzig Lewa oder tot!“Es ist kein Überfall, der Erbarmungs­würdige erklärt nur, dass er das Geld für Medikament­e braucht, weil er sonst stirbt.

Ein gruseliger Stopp in Zagreb, dann endlich: die lang hinausgezö­gerte Reise nach Futog bei Novi Sad, in der Batschka in Serbien. Es ist die Heimat der donauschwä­bischen Mutter von KarlMarkus Gauß. Eine „rätselhaft­e Scheu“, so sagt er selbst, hielt ihn, der schon auf so viele Reisen ging, stets davon ab, dorthin zu fahren. K arl-Markus Gauß, der feinsinnig­e Essayist, Autor und Herausgebe­r der Zeitschrif­t „Literatur und Kritik“, hat zwar Salzburg zu seinem Stützpunkt erklärt, doch er ist ein leidenscha­ftlicher Weltentdec­ker und dabei stets den Menschen zugewandt. Wunderbar melancholi­sch schildert der 62-Jährige sein Unterwegss­ein mit einem „Gefühl für die Schönheit hässlicher Städte“. Mit seiner Vorliebe für den wilden Osten und seinem Hang zu Seitengass­en wird er immer wieder von der unvermutet­en Schönheit des Augenblick­s überrascht. Mit jeder Zeile seiner jüngsten Reiserepor­tagen hält er den „Traum des Ruhelosen“wach, wie einst Bruce Chatwin. Und wie Chatwin weiß auch der große Gauß, dass die nomadische Lebensform nicht die schlechtes­te ist, um Frieden mit sich und der Welt zu schließen.

 ??  ?? Karl-Markus Gauß. Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen. Zsolnay Verlag, 210 Seiten, 22,70 Euro.
Karl-Markus Gauß. Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen. Zsolnay Verlag, 210 Seiten, 22,70 Euro.

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