Am Ende gibt es nur den Sturz
„Geburtstag? Lassen wir das! Ich brauche ihn nicht.“Typisch für Martin Walser, den literarischen Giganten vom Bodensee. Morgen wird er 90 Jahre alt.
Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz.“Diese aphoristisch zugespitzte, ernüchternde Lebensbilanz zog Martin Walser in seinem im Vorjahr publizierten Roman „Ein sterbender Mann“, der ebenso wie sein im Jänner erschienenes Werk „Statt etwas oder Der letzte Rank“als künstlerische Gratwanderung zwischen Erzählung, Philosophie, Autobiografie und selbstironischem literarischen Verwirrspiel daherkommt.
Dem traditionellen Erzählen hat Martin Walser den Rücken gekehrt. Seine Sprache ist seitdem noch klarer und präziser geworden. Es ist absolut bewundernswert, mit welch einer Ausdauer und Energie Martin Walser immer noch in beinahe regelmäßigen Intervallen und auf nicht absinkendem Niveau publiziert. Ein neues Buch befindet sich bereits in Arbeit.
Dabei ist Martin Walser weit mehr als nur einer der wichtigsten deutschsprachigen Nachkriegsschriftsteller. Er hat stets auch mit großer Leidenschaft an öffentlichen Debatten teilgenommen. Vor allem seine Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels spaltete 1998 das Lager der Intellektuellen.
Ähnlich wortgewaltig war die öffentliche Debatte über seinen 2001 erschienenen (und völlig misslungenen) Roman „Tod eines Kritikers“. Die FAZ hatte vier Wochen vor dem Erscheinen des Buches eine hitzige Diskussion ausgelöst, weil sie in der Hauptfigur nicht zu Unrecht frappierende Ähnlichkeiten mit Marcel Reich-Ranicki ausgemacht hatte. Nicht minder schlagzeilenträchtig war
Walsers Verlagswechsel. Nach mehr als 40 Jahren verabschiedete er sich 2004 vom Suhrkamp-Verlag, seitdem erscheinen seine Werke bei Rowohlt.
Walser ist nie ein Schriftsteller des Elfenbeinturms gewesen, ganz im Gegenteil: Er ist ein omnipräsenter „Einmischer“, einmal Querdenker, einmal die Stimme des „gesunden Volksempfindens“. So bekannte er in einem Interview, dass er nicht aufhören könne zu fragen, wie die Attentate des 11. September 2001 zustande gekommen seien, und dass „unser aller Begriffe von Gut und Böse“ins Wanken geraten sind.
Mehr als vier Jahrzehnte widmete sich Walser den gescheiterten Existenzen des Mittelstandes, die mit ihrem „Schöpfer“gealtert sind – durchaus vergleichbar mit John Updikes „Rabbit“-Romanen. Von den „Ehen in Philippsburg“(1955) lässt sich eine verbindende Klammer bis hin zu „Finks Krieg“(1996) setzen. Die Figuren ähneln einander in ihrer Antriebslosigkeit, in ihrer Lethargie und ihrem Mittelmaß. Einige hat Walser nach mehrjährigen Pausen wiederbelebt, so etwa Helmut Halm und Gottlieb Zürn. Ihr Handeln ist aufs Reagieren reduziert; erst mit Stefan Fink hat Martin Walser einen aktiven, einen agierenden Protagonisten ins Leben gerufen.
Dabei hatte Walser, am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, alles andere als gute Voraussetzungen, um eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Seine Eltern schlugen sich mehr schlecht als recht mit einer Gaststätte und einem Kohlenhandel durch. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er ab 1943 als Flakhelfer aktiv mit, diese Erfahrungen flossen in den Roman „Ein springender Brunnen“ein. Danach musste er gleichzeitig seiner Mutter helfen (der Vater war bereits 1938 gestorben) und sich um seine Ausbildung sorgen. Dennoch schloss er, gerade erst 24jährig, sein Studium mit einer Promotion über Franz Kafka ab.
In jüngster Vergangenheit lief der in Überlingen am Bodensee und in München lebende Autor noch einmal zur literarischen Höchstform auf: Es begann mit den aphoristisch zugespitzten Texten der Sammlung „Meßmers Reisen“(2003) und ging über den „Augenblick der Liebe“(2004) und seinen letzten großen „Erzähl“-Roman „Muttersohn“(2011) bis hin zum „Sterbenden Mann“(2016) und zu „Statt etwas oder Der letzte Rank“(2017). Bücher voller Lebensweisheit, in denen sich Walser ironisch bis bitterernst mit den Problemen des Älterwerdens auseinandersetzte.
Und in den letzten Jahren konnte man sich des Gefühls nicht erwehren, dass es mit Martin Walser ähnlich ist wie mit einem guten Rotwein: je älter, desto besser.