Traumflüge oder der ewige Traum vom Fliegen
ESSAY. Skispringer kommen dem Traum vom Fliegen am nächsten. Über Theorie, Praxis und das Beherrschen der Luftkräfte.
Keine andere Sportart hat sich selbst so oft überflügelt wie das Skifliegen. Die Liste der Weltrekorde ist ellenlang. Der Wettlauf um die Bestmarke wird von der gesteigerten Leistungsfähigkeit von Sportlern und Material, aber weit mehr noch vom Wachsen der Sportstätten geprägt. Größere Schanze – nächster Weltrekord. Der Weitsprungweltrekord von Mike Powell ist dagegen seit 26 Jahren bei 9,91 Metern zementiert. Eine Reglementveränderung mit Landebahnen, die der Flugkurve folgen und sich abwärts krümmen, würde aber auch hier die Bestleistungen purzeln lassen.
Der Verklärung des SkiflugWeltrekordes kann dieser nüchterne Vergleich genauso wenig anhaben wie die beharrliche Verweigerung einer offiziellen Anerkennung durch den eigenen Internationalen Verband. Der Rekordsprung wurzelt tief in den Fantasien eines jeden auch noch so jungen Skispringers, der seine ersten kleinen Hüpfer im eigenen Garten lauthals als „Rekord“bejubelt.
Und rein physikalisch ist noch lange kein Ende der Serie in Sicht – solange die Schanzen weiterwachsen. Erst bei etwa 140 km/h werden nämlich Fluggeschwindigkeit und Gleitwinkel eines guten Skisprungs konstant, berechnete Wolfram Müller von der Grazer Universität. Springer schwebt unbeirrt dahin, bis sich seine Flugbahn mit dem Radiusbogen am Ende des präparierten Hanges schneidet. Im Idealfall über 300 Meter und weiter. Aber eben nur bei einem geglückten Sprung. Die Flugkurven unter Windeinfluss würden zugleich immer unberechenbarer und gefährlicher, nervend lange Wartephasen wären die Folge; das Ende für attraktive Liveübertragungen. Luftstände weit über 10 Meter könnten selbst bei leichten Winden plötzlich auftreten und das Risiko ins Verantwortungslose treiben. Aus diesem Grund wurde im letzten Moment ein gefährliches Weltrekordspektakel am Fuße des Großglockners abgebrochen. Mit dem Vorhaben, statt eines Wettkampfes einen Dokumentarfilm mit einem einzigen Hauptdarsteller zu machen, lag das neuartige Geschäftsmodell zur Vermarktung von Weltrekorden schon vor.
Noch grün hinter den Ohren hingen wir Anfang der 70er-Jahre atemlos an den Lippen von Sepp Bradl. In seinem legendären Pokalzimmer jagte er uns Schülerkaderspringern mit der lebhaften Schilderung seines Weltrekordes in Planica die „Ganslhaut“über den Rücken: „Die Luft drückte gewaltig auf meine Brust, ich wollte nur eines, immer so weiterfliegen.“Mit schlotternden Knien kam er im Auslauf zu stehen. Keine Werbebande oder „Mixed Zone“, in der sich heute Medien und Sportler professionell begegnen, trennten 1936 den blutjungen Salzburger von den jubelnden Zuschauern und Kollegen. „Bubi“und Tausende Augenpaare starrten hypnotisiert auf die riesige hölzerne Anzeigetafel oben auf dem Sprungrichterturm. Dort hantierten Schanzenarbeiter fieberhaft herum ...
„Dann ham s’ den Oansar außerklappt ...!“Es waren 101,5 Meter für die Ski-Ewigkeit!
Der Hunderter war und ist der ultimative Ritterschlag für jeden Nachwuchsspringer, für diesen Ehrentitel hätte jeder von uns ein ganzes Schuljahr freiwillig wiederholt. Hundert Meter waren eine einschüchternde und viel zu große Nummer, aber in uns begann eine im Verborgen wirkende Vorbereitung darauf, eines Tages so einem Ungetüm von Flugschanze gegenübertreten zu können. Der Sprung von den kleineren Schanzen auf die Skiflugschanze bleibt ein atemberaubender sportlicher Initiationsritus.
Beim Skifliegen und besonders vor dem ersten Versuch wird eine Grenze bewusst erlebt: Kann ich, obwohl es gefährlich werden und schlecht ausgehen könnte, handlungsfähig bleiben? Philosophen sehen in dieser Grenzerfahrung nicht nur den existenzialistischen Antrieb der „Angstlust“, sondern einen Ausdruck menschlicher Freiheit. Apropos: Wer erstmals oben im Anlauf steht, sollte den Fliegern nicht nachblicken. Es könnte einen sonst leicht die Freiheit, doch lieber den Lift nach unten zu nehmen, übermannen.
Bis um halb drei in der Früh bin ich aufgeregt wach gelegen vor meinem ersten Flug in Oberstdorf. Erleichtert hat mich schließlich, dass auch mein Teamkollege und Freund dasselbe durchmachte und es auch mutig zugegeben hat.
Skiflieger sind die legitimen Nachfolger des Ikarus. Wie desDer sen Flügel sind die beiden Segelflächen, die Sprunglatten, Hilfe und Gefahrenquelle zugleich. Nicht mit Händen und Armen, sondern mit dem ungeschickteren Teil unserer biologischen Ausstattung, mit den unteren Extremitäten, trimmen Skiflieger relativ unbeholfen ihre störungsanfälligen Flügel. Sich aus der geduckten Kauerposition bei über 100 km/h in einen menschlichen Flugkörper zu verwandeln, verlangt genau die Autorität, die einem beim ersten Mal fehlen muss. Kopf voraus, und trotzdem balanciert und mit Schub aus den Beinen gilt es, das rechte Maß für Winkel und Drehung zu finden. Wie einst für Ikarus, dem sein Vater Dädalus riet, seine überempfindlichen Flügel zu schützen: „Meide die Sonne, flieg nicht zu hoch und auch nicht zu tief wegen dem Wasser!“
Ein erfahrener und ruhiger Trainer stärkt seinem Schützling das Vertrauen in die eigenen, oft und oft trainierten Abläufe und Reflexe. Tollkühnheit beim Absprung ist genauso gefährlich wie zögerliche Zurückhaltung in der entscheidenden Phase. Um den Luftraum mit 11,5 cm breiten und unendlich langen Latten an den Füßen anzuspringen, muss einiges richtig gemacht werden. Das andere sollte sich freundlich fügen. Der Sprungski kann zum magisch fliegenden und tragenden Teppich werden, aber auch zur heimtückischen Falle. Falsch angeströmt, reißt es ihn nach unten und hinten wie einen Wasserski, der aus voller Fahrt in eine Welle sticht.
Schwer trennt man sich vom sicheren Balken und nach zwei Sekunden arbeitet die Luft spürbar an Helm und Körper. Den Kopf in der Hocke ganz tief zu halten, ist aerodynamisch geboten aber nur mit mutigem Verzicht auf guten Überblick zu kriegen. Es rattert, schüttelt und tost, die Umrisse werden ab 80 km/h immer unschärfer. Geschwindigkeit und Luftkräfte wachsen wie beim Hochfahren eine Gegenstromanlage im Swimmingpool, während der Abstand zur Kante im Zeitraffer kleiner wird. Es gibt kein Zurück mehr. Glücklicherweise übernimmt dann der „fein ausgebildete Autopilot“und es funktioniert. Alles ist gut und so erstaunlich ruhig
V... errückt, es funktioniert wirklich!“, schoss es mir durch den Kopf, als ich beim ersten Flug eine gefühlte Minute lang furchterregend hoch, aber sicher in der Luft lag. Ganz scharf waren die Markierungen im Hang, und im Augenwinkel sogar Weitenmesser und Zuseher zu erkennen. Zwischen einem guten und einem wirklich perfekten Rekordflug existiert ein unheimlicher Unterschied. Die dritte Dimension in unserem Sport eröffnet sich nur, wenn alles stimmt, wenn man die Welle voll erwischt. Plötzlich wird man fest eingebettet und unausweichlich hochgehoben von Kräften, die sich sonst so widerspenstig zeigen. Nichts in meinem Sportlerleben hat sich so tief eingebrannt wie das erschreckende Anpacken einer Überdosis von ideal wirkenden Kräften bei einem Superflug. Vor und nach mir sind viele Rekordler ebenso glücklich, aber auch deutlich geschockt im Auslauf gestanden.
Nach dem – kurz – erfüllten Traum vom Fliegen.