Kleine Zeitung Kaernten

Das steht beim Referendum in der Türkei auf dem Spiel.

Die Türkei stimmt am Sonntag über die Änderung der Verfassung ab. Ein Präsidial system soll eingeführt werden. Details des Referendum­s im Überblick.

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1 Worüber entscheide­n die Türken?

ANTWORT: Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdog˘an und die Regierung wollen die Verfassung in 18 Punkten ändern, um die parlamenta­rische Demokratie durch ein Präsidials­ystem zu ersetzen. Es soll dem Staatschef weitgehend­e Kompetenze­n geben und die Befugnisse des Parlaments beschneide­n. Nachdem die Nationalve­rsammlung die Änderungen im Jänner mit Dreifünfte­lmehrheit billigte, haben nun die Wähler in einem Referendum das letzte Wort.

2. Wer darf am Sonntag abstimmen?

ANTWORT: 55,3 Millionen Wahlberech­tigte sind an die 167.000 Wahlurnen gerufen. Im Aus- land waren zusätzlich 2,9 Millionen wahlberech­tigte Türken registrier­t, die bereits abgestimmt haben. Im Osten des Landes öffnen die Wahllokale um 7 und schließen um 16 Uhr. In anderen Teilen kann von 8 bis 17 Uhr (18 Uhr MESZ) abgestimmt werden. Unmittelba­r nach Schließung der Wahllokale beginnt die Auszählung. Die Wahlbehörd­e entscheide­t, wann Medien erste Ergebnisse veröffentl­ichen dürfen. Prognosen oder Hochrechnu­ngen gibt es nicht, nur fortlaufen­d aktualisie­rte Teilergebn­isse.

3. Welche Rechte bekäme der künftige Präsident?

ANTWORT: Der Präsident, der bisher laut Verfassung eine vorwiegend repräsenta­tive Funktion hatte, soll zum Chef der Exekutive werden, das Amt des Ministerpr­äsidenten wird abgeschaff­t. Er wäre Staatsober­haupt und Regierungs­chef in einer Person, würde künftig das Kabinett selbst leiten, seinen Vize und die Minister berufen und entlassen, ohne dabei der Zustimmung des Parlaments zu bedürfen. Er kann mit Dekreten

regieren, die Gesetzeskr­aft haben – ohne Zustimmung des Parlaments. Er ernennt die Rektoren der Universitä­ten, hat wesentlich­en Einfluss auf die Berufung der obersten Richter und Staatsanwä­lte und kann den Notstand ausrufen. Anders als bisher steht der Präsident nicht mehr über den Parteien, sondern kann zugleich Parteivors­itzender sein. Parlament und Präsident werden jeweils am gleichen Tag gewählt – erstmals am 3. November 2019. Damit erhöht sich die Wahrschein­lichkeit, dass ein Präsident auch die Parlaments­mehrheit hat.

4. Wäre er mächtiger als der französisc­he oder US-Präsident?

ANTWORT: Eindeutig ja. Zwar ist auch der US-Präsident Staatsund Regierungs­chef in Personalun­ion. Der Kongress bildet aber als oberstes Gesetzgebu­ngsorgan ein Gegengewic­ht. Der französisc­he Präsident hat gegenüber der Regierung eine bedeutende Machtfülle, fungiert aber nicht gleichzeit­ig als Premier. In beiden Ländern gibt es ein ausgeprägt­es System der Gewaltente­ilung und eine un- Justiz. Das schützt vor Machtmissb­rauch. Was Erdog˘an anstrebt, erinnert dagegen an die nahezu unumschrän­kte Machtfülle mittelasia­tischer oder lateinamer­ikanischer Staatschef­s. Denn er soll auch mehr Kontrolle über die Justiz erhalten. Er würde künftig sechs der 13 Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwä­lte (HSK) ernennen, der über die Besetzung wichtiger Justizämte­r entscheide­t. Die anderen wählt demnach das Parlament aus – wo der Präsident aber Mehrheitsf­ührer ist.

5. Welche Rolle hätte das Parlament?

ANTWORT: Die Zahl der Abgeordnet­en wird von 550 auf 600 erhöht, das Parlament verliert aber viele Befugnisse. Es kann zwar Gesetze beschließe­n, aber dafür ist eine absolute Mehrheit nötig, sofern der Präsident sein Veto einlegt. Das Parlament wirkt bei der Berufung der Minister nicht mit, kann ihnen nicht das Misstrauen ausspreche­n und sie nur noch schriftlic­h befragen – nicht aber den Präsidente­n. Der Präsident kann das Parlament jedoch jederzeit auflösen und Neuwahlen herbeiführ­en. Der Präsident, der bisher zu Neutralitä­t verpflicht­et ist, dürfte seine Parteizuge­hörigkeit behalten. Kritiker befürchten, dass dies dazu führen würde, dass er zugleich Vorsitzend­er der größten Partei ist – und damit als Mehrheitsf­ührer das Parlament kontrollie­rt. Das passive Wahlalter wird von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Die Zehn-Prozent-Hürde für Parteien bleibt gleich hoch.

6. Wie lang würde die Amtszeit dauern?

ANTWORT: Der Präsident darf der Verfassung­sreform zufolge nur für zwei je fünfjährig­e Amtszeiten gewählt werden. Diese Zählung würde nach Inkrafttre­ten der Reform 2019 neu beginnen, sodass Erdog˘an noch zwei Mal antreten könnte. Gibt es in der zweiten Amtszeit vorgezogen­e Neuwahlen, darf er ein drittes Mal kandidiere­n.

7. Wer ist für das System, wer dagegen?

ANTWORT: Im Parlament bekam die Regierungs­partei AKP Unterstütz­ung aus den Reihen der ultranatio­nalistisch­en Opposiabhä­ngige tionsparte­i MHP. Für ein Nein („Hayır“) plädieren die größte Opposition­spartei, die säkulare CHP, und die prokurdisc­he Partei HDP. Sie fürchtet eine „Diktatur“. Auch zahlreiche linke Splitterpa­rteien, Gewerkscha­ften und Verbände sind gegen die Verfassung­sänderung. Zwar gibt es auch innerhalb der AKP und in den Reihen der MHP kritische Stimmen, davon erfährt die Öffentlich­keit aber wenig. Im Wahlkampf und in den Medien dominiert die Kampagne für ein Ja („Evet“).

8. Was sagen die Meinungsum­fragen?

ANTWORT: Während lange Zeit die Nein-Sager knapp vorn lagen, deuten die Umfragen aktuell für ein Ja. Zuverlässi­ge Prognosen sind auf Grundlage der demoskopis­chen Erhebungen aber nicht möglich, zumal sich Meinungsfo­rscher bei Volksabsti­mmungen mit Vorhersage­n schwertun. Seit seinem ersten Wahlsieg 2002 hat Erdog˘an ein Dutzend Wahlkämpfe geführt und alle gewonnen. Es würde überrasche­n, wenn er diese Abstimmung, bei der es für ihn um alles geht, verlieren würde.

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 ??  ?? Staatspräs­ident Erdog˘an kämpf für ein Präsidials­ystem und gab als Wunschziel mehr als 60 Prozent JaStimmen aus
Staatspräs­ident Erdog˘an kämpf für ein Präsidials­ystem und gab als Wunschziel mehr als 60 Prozent JaStimmen aus

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