Wer ist Präsident Recep Tayyip Erdog˘ an?
D emokrat oder Despot, Hoffnungsträger oder Totengräber der Türkei? Seit Gründung der Republik vor fast 94 Jahren hat kaum ein Politiker die Türken so polarisiert wie Recep Tayyip Erdog˘an. Seine Anhänger verehren ihn mit geradezu religiöser Inbrunst. Seine Gegner werfen ihm vor, er regiere selbstherrlich und autoritär wie ein Sultan. Nun sehen viele Erdog˘an-Kritiker sogar eine „Diktatur“heraufziehen: Beim Verfassungsreferendum an diesem Sonntag wirbt der türkische Staatschef um die Zustimmung der Wähler zu seinem geplanten Präsidialsystem. Es würde seine Machtfülle massiv erweitern und seine Stellung an der Staatsspitze zementieren – möglicherweise bis weit in die 2030er-Jahre hinein.
Immer wieder haben ihn seine Gegner abgeschrieben, immer wieder rappelte sich Erdog˘an auf. Was hat der 63-Jährige nicht schon alles weggesteckt: eine Haftstrafe und ein Berufsverbot wegen islamistischer Hetze, eine schwere Krankheit, Zweifel an seinem akademischen Grad, die Massenproteste von 2013, die wenige Monate später aufgekommenen Korruptionsvorwürfe und den Putschversuch vom Juli 2016.
Kämpfen kann er. Das hat er schon als Bub gezeigt im Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa, wo man kräftige Ellenbogen und starke Fäuste braucht, um sich zu behaupten. Der Sohn einer aus Georgien eingewanderten Seemannsfamilie verdiente sich sein Taschengeld in den Straßen von Kasımpa¸sa mit dem Verkauf von Limonade und Sesamkringeln. Eine hoffnungs- Karriere als Profifußballer musste Erdog˘an aufgeben. Sein frommer Vater schickte ihn stattdessen auf eine ˙Imam-Hatip-Schule, ein islamisches Priestergymnasium. Mitschüler gaben Erdog˘an den Spitznamen „Koran-Nachtigall“– weil er so schön aus dem heiligen Buch rezitieren konnte.
Doch den talentierten Vorbeter zog es in die Politik. Seine politische Laufbahn begann er in der islamisch-fundamentalistischen Wohlfahrtspartei, als deren Kandidat er 1994 überraschend die Oberbürgermeisterwahl in Istanbul gewann. Er verlor das Amt vier Jahre später mit dem Verbot der Partei. Dann folgten Haft und Politik-Bann. Ein erster Rückschlag, den Erdog˘an aber schnell hinter sich ließ. 2001 sammelte er Reformkräfte aus der islamischen Bewegung um sich und gründete die gemäßigt auftretende AKP. Damals befand sich die Türkei in der schwersten Finanzkrise ihrer jüngeren Geschichte, die alten Parteien hatten abgewirtschaftet – ein Glücksfall für Erdog˘an: Bei den Wahlen vom November 2002 gewann die AKP aus dem Stand heraus die absolute Mehrheit.
Unter Erdog˘an ging es in den folgenden Jahren wirtschaftlich steil nach oben. In seinen ersten zehn Regierungsjahren verdreifachte sich das ProKopf-Einkommen. Viele Türken verehren ihn seither als „Vater des Wirtschaftswunders“. Ein Hoffnungsträger war Erdog˘an aber auch für viele Europäer: Mit demokratischen Reformen wie der Abschaffung der Todesstrafe ebnete Erdo- g˘an den Weg für Beitrittsverhandlungen. 2004 wurde Erdog˘an in Berlin als „Europäer des Jahres“geehrt. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder würdigte die „herausragende staatsmännische Leistung“des „großen Reformpolitikers“Erdog˘an. Dass es nun ausgerechnet Erdog˘an ist, der demokratische Rechte massiv einschränkt und sogar die Todesstrafe wieder einführen will, scheint wie ein Widerspruch. Kritiker erklären ihn damit, dass Erdog˘an jetzt sein wahres Gesicht zeige. Nur zum Schein habe sich Erdog˘an Europa zugewandt, um unter Berufung auf die Reformforderungen der EU den politischen Einfluss der Militärs zuvolle rückzudrängen. Für diese Version spricht eine Aussage Erdog˘ans aus dem Jahr 1998: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“Sein bisher wichtigstes Ziel erreichte Erdog˘an 2014 mit der Wahl zum Staatspräsidenten. Damit kam ein Politiker, der nicht aus der weltlich geprägten und nach Westen orientierten kemalistischen Elite oder dem Militär stammt, ins höchste Staatsamt. Sein Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen macht Erdog˘an für viele Anatolier zum Idol. Er personifiziert das Emporkommen einer neuen sozialen und politischen Klasse, der ländlichen „schwarzen Türken“, auf die die urbanen „weißen Türken“bis heute herabsehen.
Ungeachtet der Grenzen der Verfassung zog Erdog˘an seit damals immer mehr Kompetenzen an sich. Symbol seines Machtstrebens ist der Aksaray, ein Prunkpalast mit 1150 Räumen, der mitten in einem Naturschutzgebiet steht. Als ein Gericht deshalb einen Baustopp erließ, spottete Erdog˘an: „Dann sollen die Richter doch kommen und den Bau abreißen!“Die Episode illustriert, was Erdog˘an von der Gewaltenteilung und einer unabhängigen Justiz hält. Detaillierte offizielle Auskünfte über die Baukosten des Palastes gibt es nicht. Die Architektenkammer von Ankara schätzt sie auf umgerechnet mindestens 1,8 Milliarden Euro – „ein Symbol der Ver- schwendung“, so 2014 der damalige Vorsitzende der Kammer, Tezcan Karaku¸s Candan.
Aber auch Erdog˘ans persönliche Verhältnisse gaben immer wieder Anlass zu Spekulationen. Gerüchteweise ist von einem Vermögen weit jenseits der Dollar-Milliardengrenze die Rede. In der Ende 2013 aufgekommenen Korruptionsaffäre gerieten nicht nur die Sprösslinge dreier Erdog˘an-Minister ins Fadenkreuz der Ermittler, sondern auch Erdog˘ans Sohn Bilal. In einem offenbar abgehörten und den Medien zugespielten Telefonat beratschlagen Vater und Sohn anscheinend, wie man eine größere Summe Bargeld wegschaffen könnte. Erdog˘an bezeichnete die Aufnahme als Fälschung.
Manche Beobachter erklären Erdog˘ans Pläne für das Präsidialsystem, das ihm weitgehende Immunität gewährt, auch mit der Sorge, die damalige Affäre könnte wieder hochkommen. Zum entscheidenden Anstoß wurde der Putschversuch vom Juli 2016. Dahinter vermutet Erdog˘an seinen einstigen Verbündeten und heutigen Widersacher, den Exil-Prediger Fethullah Gülen. Ihn sah er schon 2013 als Drahtzieher der Korruptionsvorwürfe. Erdog˘an selbst bezeichnete den Umsturzversuch schon am Tag danach als „Geschenk Gottes“. So konnte er mit seinen Gegnern abrechnen.
Mit der Macht wächst Erdog˘ans Misstrauen. Das erklärt die willkürlich wirkenden Massenverfolgungen mutmaßlicher Gülen-Anhänger, regierungskritischer Akademiker und missliebiger Journalisten. Über 135.000 Staatsdiener hat er bereits per Dekret entlassen.
Im Kampf um die Ja-Stimmen beim Verfassungsreferendum setzte Erdog˘an mehr denn je auf Polarisierung und Provokation. Er dämonisierte die Nein-Sager als Terroristen und Verräter, beschimpfte die Europäer als Nazis. Geht die Verfassungsänderung durch, will sich Erdog˘an 2019 nach dem Ablauf seiner gegenwärtigen Amtszeit unter dem neuen System zum Präsidenten wählen lassen. Die Uhr würde dann wieder auf null gestellt. Spielen die Wähler mit, könnte er mindestens zwei, unter bestimmten Umständen sogar drei fünfjährige Amtsperioden als Staatschef absolvieren und die Türkei bis ins Jahr 2034 führen. Er wäre dann 80.
Geht die Verfassungsänderung an diesem Sonntag durch, könnte Recep Tayyip Erdog˘ an – spielen die Wähler mit – die Türkei bis ins Jahr 2034 regieren. Er wäre dann 80 Jahre alt. Von Gerd Höhler