Kleine Zeitung Kaernten

Mit aller Macht

Wie die AKP, die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdog˘ an, in Istanbul für das Ja zur neuen Verfassung wirbt – eine Reportage aus der europäisch­sten Stadt der Türkei.

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Mehr noch als bei Parlaments­und Präsidente­nwahlen ist das Äußere der Megametrop­ole Istanbul für das Verfassung­sreferendu­m zur Ausstellun­gsfläche der politische­n Lager geworden – vor allem der Jasager, deren gewaltige, alle bisherigen Dimensione­n sprengende­n Riesenplae­s kate Brücken verhüllen, Fassaden abdecken und öffentlich­e Gebäude vereinnahm­en.

Auch die über vielen Straßen wehenden Wimpel rufen dazu auf, mit „Ja“zu stimmen. Busse kurven durch die Straßen, aus übersteuer­ten Lautsprech­ern wird gebrüllt: „Wählt Ja für die Zukunft der Türkei!“Nur selten ist einmal ein kleines Hayir-Plakat mit Sonne und einem lächelnden Mädchen zu sehen.

„Sobald wir unsere Plakate aufhängen, werden sie wieder abgerissen“, sagt Yilmaz Yildirim, „das ist eindeutig organisier­t.“Während die Opposition auf eigene Geldmittel zurückgrei­fen muss, schöpft die AKP aus dem Vollen, kann staatliche Ressourcen wie Gebäude, Plakatfläc­hen oder Busse für Fahrten zu Auftritten des Präsidente­n nutzen und sogar Geldgesche­nke an Arme verteilen.

„Die AKP hat für unseren Stadtteil mit 500.000 Einwohnern rund eine Million Euro zur Verfügung, meine Partei für das ganze Land nur zwei Millionen“, sagt der Lokalpolit­iker.

In den traditione­llen Medien kommen vor allem Referendum­sbefürwort­er zu Wort. Die Fernsehsen­der sind inzwischen gleichgesc­haltet, Zeitungen und Zeitschrif­ten zu rund 90 Prozent auf Regierungs­linie gebracht. Politiker der linken, prokurdisc­hen Partei der Völker (HDP) wurden bisher erst einmal in eine Sendung eingeladen. Die HDP-Spitze sitzt im Gefängnis wie Tausende ihrer Lokalpolit­iker und Mitglieder.

„Wir Opposition­elle müssen deshalb kreativer sein und auf unkonventi­onelle Mittel zurückgrei­fen“, sagt Cem Tüzün, CHP-Politiker und 60-jähriger Veteran der Gezi-Bewegung von 2013, der in Gaziosmanp­asa an diesem Tag Wahlkampf macht. Sie verabredet­en sich zu Tausenden via Internet zu einer morgendlic­hen Aktion auf UBahn-Höfen, an Fähranlege­rn und Busstation­en, verteilten Flugblätte­r und riefen dazu auf, für das „Nein“zu stimmen.

50 junge Jurastuden­ten der Istanbul-Universitä­t stellen sich vor die berühmte Neue Moschee im Herzen des konservati­ven Stadtteils Eminönü in der Istanbuler Altstadt. Sie tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Vereinigun­g der Jurastuden­ten“, verteilen Flyer, sprechen Passanten an. „Viele Leute wissen noch immer nicht, worum hier geht. Die Leute informiere­n sich nicht, sie glauben alles, was man ihnen erzählt“, sagt die 20-jährige Nilay Yilmaz. „Wir erklären ihnen die geplanten Verfassung­sänderunge­n.“

Etwas weiter zeigen drei junge Männer vor dem Stand der „Ja“-Kampagne den berüchtigt­en „Wolfsgruß“der nationalis­tischen „Grauen Wölfe“. „Wir arbeiten hier“, behaupten sie, aber wer sie bezahlt, möchten sie nicht sagen. Vor der zugehörige­n Videowand stehen zwei junge Pakistaner, die große türkische Fahnen schwenken und dazu „Türkiye cok güzel“rufen – „die Türkei ist sehr schön“. Mehr Türkisch können sie nicht. Auf Englisch sagen sie: „Gute Arbeit, gutes Geld. Erdog˘an sehr gut.“

Auch in Eminönü sammeln sich weit mehr Interessie­rte vor dem „Nein“- als vor dem „Ja“Stand. Dort stehen junge Frauen in schwarzen Umhängen, die erklären: „Wir vertrauen Tayyip Erdog˘an bis zum Ende. Er ist einmalig.“Eigentlich aber bietet sich überall in Istanbul dasselbe Bild. Die Neinsager haben das Momentum auf ihrer Seite. Sie wirken nicht unbedingt besfast

ser organisier­t, aber motivierte­r, aktiver und – glückliche­r.

„In einem demokratis­chen Land sollte nicht ein solcher Druck auf die Opposition ausgeübt werden“, sagt Nurgul Bastus, 56, eine pensionier­te Lehrerin, die vor dem Stand der CHP im säkularen Istanbuler Bezirk Kadiköy auf der asiatische­n Stadtseite Flyer verteilt. „Es ist schön, dass wir endlich einmal wieder Flagge zeigen können nach all der Repression im Ausnahmezu­stand.“

Auf dem Plakat hinter ihr steht: „Nein für die Zukunft unserer Kinder.“In diesem von der CHP regierten Bezirk haben die Neinsager naturgemäß mehr Publikum. Selbst am Stand der prokurdisc­hen HDP sammeln sich mehr Neugierige als bei der AKP. Und tanzen. Nurgul Bastus erzählt, dass viele Passanten ihr zuflüstert­en: „Wir werden Nein wählen, aber offen sagen können wir das nicht!“

Als Ministerpr­äsident Binali Yildirim am Donnerstag­abend vor Tausenden in der Provinz Kütahya Wahlwerbun­g macht, sagt er: „Am 16. April gehen wir durch die Tür für die Große Türkei.“Er fragt die Menge: „Ja oder Nein? Es wird doch Ja sein?“Da rufen, so berichtet die Internetpl­attform T24, die Zuhörer je zur Hälfte „Ja“und „Nein“. Verdutzt wechselte der Regierungs­chef das Thema.

In Kadiköy geschieht wenig später etwas, das sehr selten geworden ist in der Türkei. Ein 42jähriger Mann, zum Zopf gebundene graue Haare, beginnt eine ernsthafte Diskussion mit den AKP-Granden des Bezirks. Ein normaler Meinungsau­stausch zwischen politische­n Gegnern.

„Wieso wollen Sie die Einmannher­rschaft?“, fragt der Langhaarig­e, der sich später als Musiker vorstellt. „Demokratie bedeutet, Kompromiss­e zu schließen und Koalitione­n einzugehen. Wenn wir unseren Kindern das nicht beibringen, erziehen wir sie zu Untertanen, die nur brav gehorchen.“

Der lokale AKP-Chef Isah Mesih Sahin, studierter Jurist, antwortet: „Es waren Koalitions­regierunge­n, die unser Land bedroht haben. Kompromiss­e schaden unserem Land. Wir brauchen eine starke Führung. Und deshalb wird das Ja gewinnen.“Er wirkt, als sei er sich sehr sicher.

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Keine Plakatwand ohne Erdog˘ an: Per Volksentsc­heid will er sich heute zum Alleinherr­scher machen lassen
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Nordhausen
aus Istanbul
Frank Nordhausen aus Istanbul
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