Nie mehr fragen müssen
Die Türkei und ihr Präsident stehen heute an einer Wegscheide. Die neue Verfassung droht, alle Kontrollinstanzen im Staat auszuhebeln.
Es ist ein uralter Traum mächtiger Männer, endlich überhaupt niemanden mehr fragen zu müssen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdog˘an steht knapp vor der Verwirklichung seiner Vision. Weder das Parlament noch Richter sollen ihm in Zukunft beim Regierungshandwerk in die Parade fahren dürfen. Alles, was Staatsdenker je zur Eindämmung absoluter Macht erdacht haben, fegt die heute zur Abstimmung vorliegende neue Verfassung aus dem Weg. Nur die Zustimmung der Bevölkerung fehlt noch zur Verwirklichung des Traums.
Die Folgen eines Ja für die Türkei kann man sich ohne viel Fantasie ausmalen. Dass der Präsident umgehend die Todesstrafe einführen möchte, hat er angekündigt. Mit dem willkürlichen Einsatz der Justiz gegen politische Gegner und Journalisten wollte Erdog˘an nicht warten. Auch die Gleichsetzung von Kurden mit Terroristen betreibt er schon lange. Die endgültige Beseitigung aller Widerlager im politischen System würde dem Machtbewussten auch noch den lästigen Widerspruch ersparen.
Was könnte ein Ja zur neuen Verfassung für Europa bedeuten? Die Beitrittsverhandlungen, die wegen massiver Vorbehalte in vielen Ländern der Union bereits vorher wenig Aussicht auf Erfolg hatten, liegen lange schon auf Eis. Die sogenannten Fortschrittsberichte der EU vermessen Jahr für Jahr nur noch die wachsende Distanz des Landes zu den politischen Standards, die eine Mitgliedschaft voraussetzt. Sollte eine Mehrheit für Erdog˘ans neue Verfassung zustande kommen, wäre eine Wiederaufnahme der Gespräche wohl auf Generationen undenkbar.
Wie aber umgehen mit dem riesigen Nachbarland Europas, sollte die türkische Demokratie tatsächlich abgleiten in ein autoritäres Regime? Das Vorbild liefert die Geschichte der Türkei selbst. Wiederholt haben dort die Militärs gewählte Regierungen weggeputscht. We- der die guten Kontakte zu Europa noch die zur Nato hat das merklich getrübt. Auch mit einem Autokraten im Präsidentenpalast wird sich eine Gesprächsbasis finden. Nach Wegfall aller Illusionen über eine engere Assoziation mit dem eigenen, brüchigen Staatenbund könnte das Reden sogar leichterfallen. Es geht dann nur noch um Interessen, der moralisierende, vorwurfsvolle Tonfall, der den Dialog zwischen Ankara und den europäischen Gesprächspartnern seit Jahren vergiftet, würde vielleicht nüchternerer Abwägung weichen. F ür Millionen Türken, die seit Langem bei uns leben, ob mit oder ohne österreichischen Pass, würde im Fall eines Ja der schwelende Loyalitätskonflikt aufbrechen. Die Zustimmung zu einem durch keinerlei Schranken gebremsten Autokraten ist schwer vereinbar mit dem Bekenntnis zur Demokratie, in der zu leben sie oder ihre Familie sich entschlossen haben. Die Klärung der Prioritäten, die lange Zeit nicht dringlich schien, wird unter den veränderten Bedingungen unvermeidlich.