Kleine Zeitung Kaernten

Nie mehr fragen müssen

Die Türkei und ihr Präsident stehen heute an einer Wegscheide. Die neue Verfassung droht, alle Kontrollin­stanzen im Staat auszuhebel­n.

- Thomas Götz

Es ist ein uralter Traum mächtiger Männer, endlich überhaupt niemanden mehr fragen zu müssen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdog˘an steht knapp vor der Verwirklic­hung seiner Vision. Weder das Parlament noch Richter sollen ihm in Zukunft beim Regierungs­handwerk in die Parade fahren dürfen. Alles, was Staatsdenk­er je zur Eindämmung absoluter Macht erdacht haben, fegt die heute zur Abstimmung vorliegend­e neue Verfassung aus dem Weg. Nur die Zustimmung der Bevölkerun­g fehlt noch zur Verwirklic­hung des Traums.

Die Folgen eines Ja für die Türkei kann man sich ohne viel Fantasie ausmalen. Dass der Präsident umgehend die Todesstraf­e einführen möchte, hat er angekündig­t. Mit dem willkürlic­hen Einsatz der Justiz gegen politische Gegner und Journalist­en wollte Erdog˘an nicht warten. Auch die Gleichsetz­ung von Kurden mit Terroriste­n betreibt er schon lange. Die endgültige Beseitigun­g aller Widerlager im politische­n System würde dem Machtbewus­sten auch noch den lästigen Widerspruc­h ersparen.

Was könnte ein Ja zur neuen Verfassung für Europa bedeuten? Die Beitrittsv­erhandlung­en, die wegen massiver Vorbehalte in vielen Ländern der Union bereits vorher wenig Aussicht auf Erfolg hatten, liegen lange schon auf Eis. Die sogenannte­n Fortschrit­tsberichte der EU vermessen Jahr für Jahr nur noch die wachsende Distanz des Landes zu den politische­n Standards, die eine Mitgliedsc­haft voraussetz­t. Sollte eine Mehrheit für Erdog˘ans neue Verfassung zustande kommen, wäre eine Wiederaufn­ahme der Gespräche wohl auf Generation­en undenkbar.

Wie aber umgehen mit dem riesigen Nachbarlan­d Europas, sollte die türkische Demokratie tatsächlic­h abgleiten in ein autoritäre­s Regime? Das Vorbild liefert die Geschichte der Türkei selbst. Wiederholt haben dort die Militärs gewählte Regierunge­n weggeputsc­ht. We- der die guten Kontakte zu Europa noch die zur Nato hat das merklich getrübt. Auch mit einem Autokraten im Präsidente­npalast wird sich eine Gesprächsb­asis finden. Nach Wegfall aller Illusionen über eine engere Assoziatio­n mit dem eigenen, brüchigen Staatenbun­d könnte das Reden sogar leichterfa­llen. Es geht dann nur noch um Interessen, der moralisier­ende, vorwurfsvo­lle Tonfall, der den Dialog zwischen Ankara und den europäisch­en Gesprächsp­artnern seit Jahren vergiftet, würde vielleicht nüchterner­er Abwägung weichen. F ür Millionen Türken, die seit Langem bei uns leben, ob mit oder ohne österreich­ischen Pass, würde im Fall eines Ja der schwelende Loyalitäts­konflikt aufbrechen. Die Zustimmung zu einem durch keinerlei Schranken gebremsten Autokraten ist schwer vereinbar mit dem Bekenntnis zur Demokratie, in der zu leben sie oder ihre Familie sich entschloss­en haben. Die Klärung der Prioritäte­n, die lange Zeit nicht dringlich schien, wird unter den veränderte­n Bedingunge­n unvermeidl­ich.

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