Kleine Zeitung Kaernten

Das andere Frankreich

Mehr als 200 Jahre danach entzweit die Revolution das Land noch immer. Reynald Secher hat sich die Erinnerung an ihre Schrecken zur Lebensaufg­abe gemacht.

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Es ist jetzt mehr als ein halbes Jahrhunder­t her, dass Reynald Secher zum ersten Mal spürte, dass seiner Herkunft ein Makel anhaftete. Nach der Grundschul­e im heimatlich­en La Chapelle-Basse-Mer, einem Flecken unweit von Nantes südlich der Loire, musste er für das Collège über den Fluss nach Saint-Sauveur de Redon. „Wenn man dort erzählte, dass man aus der Vendée kommt, haben sich alle lustig gemacht. Aus Furcht, als Hinterwäld­ler verspottet zu werden, haben sich viele gar nicht zu sagen getraut, dass sie vom linken Flussufer kommen.“

Secher ist ein kleiner Herr Anfang 60 mit Brille und kurzem graumelier­tem Haar. Feine Fältchen haben sich um seinen Mund eingegrabe­n. Seine Gestik und seine Sprache verraten Tatkraft, aber auch Sendungsbe­wusstsein. Jedes Wort, jede Handbewegu­ng sitzt. Da ist einer, der reden kann und überzeugen, ein Mann, der um seine Wirkung auf andere weiß. „Ihnen ist aber schon klar, mit wem Sie es zu tun haben?“, hat er am Telefon gefragt. Das klang wie eine Warnung. Denn Secher hat sich viele Feinde gemacht.

Das hat mit der Vendée zu tun, seinem Lebensthem­a, aber auch damit, dass er als Historitot­alitären ker und Katholik nie die große weltanscha­uliche Auseinande­rsetzung gescheut hat.

Die Vendée, das ist ein weiter, hügeliger Landstrich am Atlantik, der sich von der Loire im Norden bis fast nach La Rochelle erstreckt. Große Städte sucht man vergebens. Dafür findet man zahlreiche Steinkreuz­e, Kalvarienb­erge und Mahnmale, die an das erinnern, was hier vor mehr als 200 Jahren geschah. Die Vendée ist die brandige Wunde in der Seele Frankreich­s. Sie ist das Symbol für die ideologisc­hen Gräben, die die Nation bis heute durchfurch­en.

Zur Zeit der

Revolution erhob sich südlich der Loire die Landbevölk­erung gegen die Schreckens­herrschaft des Pariser Nationalko­nvents. Die Rebellen waren längst besiegt, als die Pariser Radikalen im Jänner 1794 den Beschluss fassten, die unbotmäßig­e Provinz auszulösch­en. Zwölf „Höllenkolo­nnen“durchkämmt­en die Vendée und massakrier­ten, was ihnen unterkam: Männer, Frauen, Kinder. Am Ende übersäten Berge von Leichen das Land. Und die Deutung des Gemetzels spaltet Frankreich bis in die Gegenwart. Katholiken und Kirchenfei­nde, Rechte und Linke, Anhänger des Zentralsta­ats und seine Gegner stehen sich unversöhnl­ich gegenüber.

War es nur ein blutiger Bürgerkrie­g der jungen Republik gegen von der Aristokrat­ie angestifte­te katholisch­e-royalistis­che Bauernarme­en, wie die der Revolution zugeneigte dominante Geschichts­schreibung behauptet? Oder fand in der Vendée der erste planmäßig angelegte Massenmord der Moderne statt, wie eine Minderheit von Historiker­n meint?

Secher war der erste, der das Wort vom „Völkermord“öffentlich in den Mund nahm und sich damit in den Mittelpunk­t des Glaubenskr­ieges katapultie­rte. 1985, mitten in den Vorbereitu­ngen zum 200. Revolution­sgeburtsta­g, legte er an der Pariser Sorbonne seine Habilitati­onsschrift über den Genozid in der Vendée vor, in der er die Vernichtun­gspraktike­n der Revolution beschrieb. Ein Tabubruch. Stellte Secher damit doch mehr oder weniger unverklaus­uliert Männer wie Robespierr­e und Saint-Just auf eine Stufe mit Stalin und Hitler. Wütend fiel die marxistisc­he Revolution­sforschung über den jungen Zunftkolle­gen her. „Man hat mich bedroht und als Nestbeschm­utzer beschimpft, als vaterlands­losen Gesellen und Rechtsextr­emen.“Am Ende musste Secher sogar den Universitä­tsdienst quittieren.

Frühling am

Unterlauf der Loire, ein Meer in Gelb. Kniehoch wogt der Raps im Wind, die Obstbäume stehen in voller Blüte. Es ist uralter Kulturbode­n hier im Westen, wo die Bretagne und das Anjou aneinander­stoßen. Sechers Familie zählt zu den ältesten von La ChapelleBa­sse-Mer, seine Vorfahren waren königliche Notare. Von der Grandeur vergangene­r Tage zeugt auch das noble Familienan­wesen, das hinter Steinmauer­n verborgen in einem Park mit hohen Zedern liegt. Auf dem großen Tisch im Haus stapeln sich Bücher und Papiere. Reynald Secher sitzt davor und erzählt seine Geschichte: Wie er

In Frankreich hat seit 1789 die Linke das Sagen. Sie hat ein Inzestuöse­s, sich selbst reproduzie­rendes System errichtet, das alles eliminiert, was es infrage stellt.

Reynald Secher

sich als junger Historiker durch die Archive zu graben begann, zuerst ohne Hast, dann immer fiebriger, weil das, was er entdeckte, ihm den Atem verschlug. Er erzählt vom Beschluss des Nationalko­nvents, die Vendée in eine „Wüste“zu verwandeln, und von Plänen, Gift und Gas einzusetze­n. „Die Revolution­äre wollten einen neuen Menschen erschaffen. Weil die Vendée sich wehrte, wurde sie ausgelösch­t. Auf den Genozid folgte der Memorizid, die gezielte Verfälschu­ng der Erinnerung: Die Täter erklärten sich zu Opfern und ihre Opfer zu Tätern. Und dabei ist es geblieben. Frankreich, das Land, das der Welt große Lektionen erteilt, hat die Vernichtun­gsgesetze von 1794 nie abgeschaff­t!“

Die Vendée lässt Secher nicht los. Der kleine Verlag, den er heute führt, hat sich auf Literatur zum Thema spezialisi­ert. Und 1994 hat Secher mit dem Wiederaufb­au von SaintPierr­e-ès-Liens begonnen, einem während der Französisc­hen Revolution niedergebr­annten Kirchlein am Ortsrand von La Chapelle-BasseMer. Sommer für Sommer renoviert er mit jungen Leuten aus ganz Frankreich das Gotteshaus. Längst ist das Dach wieder gedeckt und auch der Kreuzgang wurde rekonstrui­ert. Er soll ein Mahnmal für die Opfer der Vendéekrie­ge beherStört

„Was ich tue, mache ich

nicht, weil ich in die Vergangenh­eit vernarrt wäre, sondern weil es ohne Vergangenh­eit keine Zukunft gibt.

Reynald Secher

bergen mit Fresken und den Namen aller Ermordeten an den Wänden. „Saint-Pierre-èsLiens ist Symbol meines Widerstand­s“, sagt der Historiker.

Bei aller Umtriebigk­eit ist die erzwungene Demission von der Universitä­t doch seine Lebenswund­e geblieben. „In Wahrheit hat in Frankreich seit 1789 die Linke das Sagen. Sie hat ein sich selbst reproduzie­rendes, inzestuöse­s System errichtet, das alles eliminiert, was es infrage stellen könnte“, meint Secher.

Dieses totalitäre System habe von der alten jakobinisc­hen Utopie vom neuen Menschen nie abgelassen und das französisc­he Bildungssy­stem, Kulturszen­e, Medien, Justiz, Magistratu­r und Politik indoktrini­ert. „Daher die rabiaten Versuche, die christlich­en Wurzeln Frankreich­s zu kappen. Daher die Vernichtun­gskampagne, welcher der konservati­ve Präsidents­chaftskand­idat François Fillon ausgesetzt ist. Denn Fil- lon ist Katholik, und Katholik zu sein in einem Land, das die Laizität zur Staatsreli­gion erhoben hat, heißt, ein Paria zu sein. Weil man von der Norm abweicht, vom Gedankenei­nheitsbrei. Wer das tut, kann nach der vorherrsch­enden Meinung aber nur ein Extremist sein. Und um einen Extremiste­n zur Strecke zu bringen, ist jede Waffe gut.“

ihn, den Moralstren­gen, nicht, dass der konservati­ve Kandidat Frau und Kinder auf Steuerzahl­erkosten beschäftig­te und sich teure Anzüge und Uhren schenken ließ? „Nicht mein Problem“, sagt Secher. „Mir geht es darum, was aus Frankreich wird. Fillon ist der Einzige, der eine klare Vorstellun­g vom Land hat – von seiner

seiner Gegenwart und seiner Zukunft.“„Für einen Kandidaten wie Emmanuel Macron dagegen existiert Frankreich nicht mehr. Das Land hat für ihn keine Identität und keine Geschichte“.

Der Politologe Guillaume Bernard glaubt, dass die Frage nach der Identität der Franzosen die Präsidents­chaftswahl entscheide­n könnte. „In Frankreich gärt es schon lange. Die Zuwanderun­g und die Sorge vieler, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, ist nur ein Beispiel für die schweren Verwerfung­en zwischen dem Volk und seinen politische­n Eliten.“

Bernard unterricht­et am Institut Catholique d’Études Supérieure­s (ICES), einer kleinen Privatuniv­ersität in La Rochesur-Yon in der Vendée, und hat ein viel beachtetes Buch über die politische Wiederaufe­rstehung der Rechten in Frankreich geschriebe­n. Er glaubt, dass das Land Schauplatz einer antimodern­istischen Revolte ist. „Seit 1789 hat die Linke mit ihren Ideen Frankreich kolonisier­t. Das moderne Denken war auf dem Vormarsch. Sogar die Parteien auf der Rechten sogen es auf. Aber das Scheitern des Kommunismu­s und der Übergang zu einer unkontroll­ierten Globalisie­rung haben dem ein jähes Ende gesetzt. Die Linke ist intellektu­ell erschöpft. In dieser SiVergange­nheit, tuation tauchen längst verschwund­en geglaubte Ideen aus der Zeit vor der Aufklärung wieder auf und kristallis­ieren politisch aus. Bestes Beispiel sind die Massenprot­este gegen die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe, bei denen im Jahr 2013 unter Berufung auf das Naturrecht Hunderttau­sende Franzosen auf die Straße gegangen sind.“

Dabei habe es sich beileibe nicht nur um Katholiken gehandelt. Deren politische­s Wiedererwa­chen sei nur ein Teil der rechten Schubumkeh­r, das Vordringen des Front National ein anderer, so Bernard. Wobei die Brüche nicht nur zwischen links und rechts, sondern auch innerhalb der Rechten, zwischen Parteibasi­s und -spitze verlaufen würden. „Kern der Auseinande­rsetzung ist die Frage, ob eine Gesellscha­ft auf abstrakten, ideologisc­hen Prinzipien errichtet werden kann, wie die Revolution von 1789 glaubte. Oder ob es eine natürliche Ordnung der Dinge gibt.“Fillons haushoher Sieg bei den konservati­ven Vorwahlen über seinen Rivalen Alain Juppé sei in diesem Sinn ein „Aufschrei“gewesen, eine Absage an Juppés Multikultu­ralismus und Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach den eigentlich­en Wurzeln des Landes. „Auch Reynald Secher und seine Kapelle stehen emblematis­ch dafür. Das sind junge Leute, die ihre Zeit hergeben, um einen symbolisch­en Ort zu errichten, und sich auf diese Weise ihre Geschichte zurückhole­n“, sagt Bernard.

Es gibt ein anderes Frankreich, das älter ist als Trikolore und Marseillai­se, und es will nicht länger schweigen. Hoch über der Loire steht Reynald Secher in seinem Kirchlein und läutet die Glocke. „Was ich tue, tue ich nicht, weil ich in die Vergangenh­eit vernarrt bin“, sagt er, „sondern weil wir ohne Vergangenh­eit keine Zukunft haben.“

Lesen Sie morgen: „Aus der Tiefe“

Katholik zu sein in einem Land, das die Laizität zur Staatsreli­gion erhoben hat, heißt, in den Augen vieler ein Paria zu sein, ein Extremist.

Reynald Secher

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Der revolution­äre Terror in der Vendée machte auch vor Frauen, Kindern und Alten nicht halt. Dieses alte Gemälde im Besitz von Secher bewahrt die Erinnerung daran Reynald Secher in Saint-Pierreès-Liens. Im März 1794 wurde die Kapelle von den...
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 ??  ?? Für den Politologe­n Guillaume Bernard ist Frankreich Schauplatz eines antimodern­istischen Aufstands gegen die Ideale der Revolution Reynald Secher in der neu gemauerten Krypta seines Kirchleins. Bauern aus der Umgebung haben die Steine kostenlos zur...
Für den Politologe­n Guillaume Bernard ist Frankreich Schauplatz eines antimodern­istischen Aufstands gegen die Ideale der Revolution Reynald Secher in der neu gemauerten Krypta seines Kirchleins. Bauern aus der Umgebung haben die Steine kostenlos zur...
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