Moderator der Republik
Kurz vor der langen Umbaupause stellte der Nationalrat noch einmal seine Lebendigkeit unter Beweis – als Moderator des Gefühlshaushalts der Republik.
Parlamentssitzungen sind im Normalbetrieb ritualisiert und vorhersehbar. Man weiß, was kommt, ein straffes Korsett hemmt Spontaneität. Nicht so an diesem denkwürdigen Dienstag. Was in aller Früh vor dem Ministerrat noch galt, war zu Mittag Makulatur. Am Nachmittag verflüchtigten sich weitere Gewissheiten und am Abend sah die Welt wieder anders aus. Nun saßen sie wieder beisammen, die getrennten Regierungsparteien, und begannen auszuhandeln, was noch möglich sein könnte.
Es hätte auch anders ausgehen können. Bundeskanzler Christian Kern hatte angedroht, Wolfgang Brandstetter als Vizekanzler nicht zu akzeptieren. Er wollte den Chef selber zur Seite haben. Weiters hatte Kern angekündigt, hinfort mit freien Mehrheiten im Parlament regieren zu wollen.
Beides galt am Nachmittag nicht mehr. Brandstetter wird Vizekanzler und ein von den Grünen gestellter Fristsetzungsantrag zur Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe ging nicht mit den Stimmen der SPÖ durch. Am Sonntag noch hatte Kern in der Pressestunde eben dieses Thema genannt, um die Bereitschaft seiner Partei zu illustrieren, auch ohne ÖVP-Zustimmung Beschlüsse zu fassen. Am Ende, zeigte sich, ist auch für die größere Regierungspartei die Aussicht auf vier Monate permanenter parlamentarischer Schlachten nicht sehr verlockend. Auch lassen sich vermutlich eher mit dem eingespielten Partner, der ja Zusammenarbeit zugesagt hat, noch ein paar ausgearbeitete Gesetze zum Abschluss bringen.
Sebastian Kurz hat seine Linie den ganzen Tag durchgehalten, hat mantraartig dasselbe gesagt. So lässt sich Kritik einmal abfedern, auf Dauer wird es nicht genügen. Der in der Debatte wiederholt erhobenen Forderung, endlich zu sagen, wofür er in vielen Politikfeldern eigentlich stehe, wird Kurz bald nachkommen müssen. Christian Kern hat seiner Partei mit dem „Plan A“ein Programm auf den Tisch geworfen, das quer durch alle Ressorts Eckpfeiler sozialdemokratischer Politik skizziert. Kurz, der bisher ganz bewusst nur sein eigenes Feld beackert hat, wird Ähnliches nachliefern müssen. Der Begriff der „neuen Volkspartei“ist allenfalls eine Überschrift, mehr nicht.
Das spannendste Ergebnis dieses aufregenden Tages aber war die Beobachtung, welche therapeutischen Kräfte die Spielregeln einer gut geölten Demokratie entwickeln können. In geregelten Bahnen, unterbrochen von Ordnungsrufen der Parlamentspräsidenten, wogte die Schlacht der Argumente und Emotionen. Wie ein heilsames Gewitter entlud sich die Spannung von Tagen. Geschützt von den Spielregeln des Hauses konnte man einander öffentlich an den Kopf werfen, was sich aufgestaut hatte. as alte Parlament, das im Sommer zur Renovierung geräumt werden muss, hat so noch einmal eindrucksvoll seine Bedeutung als Moderator des Gefühlshaushalts der Republik unter Beweis gestellt.
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