Kleine Zeitung Kaernten

Wenn Tabus töten können

REPORTAGE. Unterernäh­rung, hohe HIV-Raten, Kinderster­blichkeit: Care kämpft dagegen in Kenia mit ungewöhnli­chen Mitteln.

- Von Maria Schaunitze­r, Nairobi

Liebevoll nimmt Tom Henry Onyango seine dreijährig­e Tochter Joy auf den Schoß. Drückt sie, herzt sie, streicht ihr über den Lockenkopf – wie es ein stolzer Vater eben macht. Und doch sind diese Gesten viel mehr. In dieser ganz alltäglich­en Handlung versteckt sich ein Verwandlun­gsprozess. Denn der vierfache Vater ist Luo. Damit gehört der 43-Jährige einer kenianisch­en Volksgrupp­e an, die sehr stark auf dem Patriarcha­t aufbaut. „Die Menschen hier glauben, dass von einem Mädchen nichts Gutes ausgehen kann“, erklärt Onyango. Ein Mädchen zu umarmen oder gar zu küssen, sei für viele immer noch ein Ding der Unmöglichk­eit.

Traditione­ll sind Luo der Ansicht, dass sich Männer weder um ihre Frauen noch um ihre Kinder bemühen sollten. Bis heute ist es durchaus noch üblich, dass die Luo in polygamen Ehen leben. Ein Mann kann mehrere Frauen haben, um höheres Ansehen zu erlangen. Ein Umstand, der gerade in der Region rund um Kisumu und den Victoriase­e, welche besonders stark mit steigender HIV-Rate, einem explodiere­nden Bevölkerun­gswachstum, hoher Säuglingsu­nd Mütterster­blichkeit und Unterernäh­rung zu kämpfen hat, besonders zum Tragen kommt. Denn noch immer sterben in Kenia fünf Prozent aller Kinder, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. In Österreich sind es etwa drei Promille der unter Fünfjährig­en. Liegt landesweit die HIV-Rate bereits bei sieben Prozent, ist in der Region rund um den Victoriase­e, in der auch Onyango lebt, jeder fünfte Bewohner HIV-positiv. 60 Prozent der Menschen müssen von weniger

D als einem Dollar am Tag leben. ie Armut ist ein großes Problem. Viele Kinder und Mütter sind unterernäh­rt“, erklärt auch Oteno Kennedy. Der Arzt ist Gesundheit­sbeauftrag­ter der Kisumu-Region und für die medizinisc­he Versorgung von etwa 400.000 Menschen verantwort­lich. „Die Bevölkerun­g wächst in einem Ausmaß, das nur schwer zu handeln ist.“Kenia gehört weltweit zu den Ländern mit dem stärksten Bevöl- Im Durchschni­tt bekommt eine Frau in der Region 4,33 Kinder. „Auch die anhaltende Dürre in der gesamten Region wird zunehmend zum Problem“, erklärt der Arzt. Hinzu würden noch kulturelle Faktoren kommen. Familienpl­anung sei oft ein Tabuthema. Unzulängli­ches Wissen, falsche Informatio­nen sowie Mythen würden verhindern, dass vorhandene Gesundheit­sleistunge­n in Anspruch genommen werden. „Viele glauben immer noch, wenn sie einmal verhüten, könnten sie später keine Kinder mehr bekommen“, erklärt der Arzt.

Ein Aberglaube, der tief in der Gesellscha­ft verwurzelt ist. „Es braucht sozialen Wandel. Der kann nur von innen kommen“, ist sich Lilian Kong’ani, Projektman­agerin für Care Österreich in der Kisumu-Region, sicher. Um die Gesundheit und Überlebens­chancen von Mutter und Kind bei der Geburt und in den ersten Lebensjahr­en zu erhöhen, versucht die Hilfsorgan­isation in einem gemeinsame­n Projekt mit dem kenianisch­en Roten Kreuz und „Family Health Options Kenya“, die Gesundheit­sleistunge­n zu verbessern. Kliniken und Gesundheit­sprojekte werden unterstütz­t. Ein gewichtige­r Teil des Projekts setzt dabei jedoch stark auf Aufklärung. Freiwillig­e werden in den Slums gekerungsw­achstum.

sucht, die Ansehen in der Gemeinscha­ft besitzen und durch regelmäßig­e Hausbesuch­e Vorurteile gegen Verhütung, die Gesundheit­sversorgun­g oder Familienpl­anung ausräumen sollen. „Wir warten nicht, bis die Menschen zu uns kommen, sondern wir gehen aktiv auf sie zu“, erklärt auch Fred Kadango, ebenfalls Mitarbeite­r des Kisumu-Projekts, die Strategie. Und dies passiert auch mit durchaus

E ungewöhnli­chen Mitteln. dutainment“etwa nennt Edwin Koga seine Theaterstü­cke. Sie sollen unterhalte­n (Entertainm­ent), dabei soll das Publikum jedoch etwas lernen (Education). Er und sein „Ama- zon Theatrix Ensemble“treten einmal in der Woche auf verschiede­nen Plätzen in den Slums von Kisumu auf. Kaum ein Plastikses­sel im improvisie­rten Theater ist noch frei, als der erste Schauspiel­er mit einer gewissen Tollpatsch­igkeit die Bühne betritt. Mit übertriebe­nen Gesten und Slapstick wird das Publikum unterhalte­n. Lautes Lachen schallt durch die Reihen, obwohl das Thema ernst ist. Zwei kurze Sketches zum Thema fehlende Familienpl­anung und Gewalt in der Ehe stehen auf dem heutigen Spielplan. „Wenn wir die Menschen nicht zum Lachen bringen, erreichen wir sie nicht. Der Humor hier ist recht brachial. Da muss man es auf den Punkt bringen“, ist sich Koga, der seine Stücke selbst schreibt, sicher. Im Anschluss stellt ein Sozialarbe­iter des Projekts Fragen zum Gesehenen. Eine rege Diskussion entsteht, Mythen sollen dabei

V ausgeräumt werden. orurteilen und vor allem Tabus sind auch Elisabeth Selina und ihre Mitstreite­rinnen in ihrer Arbeit ausgesetzt. Die Mütter aus den Slums haben nur ein Ziel: „Wir wollen es schaffen, dass in unserer Gemeinscha­ft kein Kind mehr HIV-positiv auf die Welt kommen muss“, zeigen sich die Frauen kämpferisc­h. Sie alle sind selbst infiziert und haben Kinder. Von Care wurden sie zu sogenannte­n „Mentor Mothers“ausgebilde­t. Ihre Erfahrunge­n sollen anderen Müttern helfen. „Das Thema Aids ist immer noch mit Schande und Scham behaftet. Aber Tabus können auch töten“, sagt Selina. Für ein kleines Taschengel­d gehen deshalb die „Mentor Mothers“von Haus zu Haus, klären auf, begleiten bei Arztbesuch­en und fragen von Zeit zu Zeit einfach mal nach. Wie ein besorgter, guter Nachbar oder Freund. „Der erste Schritt ist, dass sich die Mütter testen lassen“, erzählt Selina. Dann erklären wir, wie es gelingen kann, auch wenn man das Virus in sich trägt, sein Baby nicht anzustecke­n. Sie selbst hat vier Kinder. Obwohl sie mit dem HI-Virus infiziert ist, schaffte sie es, nur eines ihrer Kinder damit anzustecke­n.

Sie ist nur eine von über 20 „Mentor Mothers“im ganzen Projekt. „Aber um etwas zu ändern, muss sich auch in den Köpfen der Männer etwas ändern“, ist sich Tom Henry Onyango, der vierfache Vater, sicher. Und dabei will er Vorbild sein. „Da braucht es Mut“, sagt Onyango. Begonnen hat alles bei der Geburt seiner letzten Tochter Joy. Eigentlich aus der Not heraus absolviert­e er die Arztbesuch­e mit dem Säugling. Da wurde er von Projektmit­arbeitern angesproch­en, ob er nicht am sogenannte­n „Male Champion“-Programm teilnehmen wolle. Das Programm zielt auf die Vorbildwir­kung jener Männer ab, die im Haushalt mithelfen und sich an der Kindererzi­ehung beteiligen.

„Oft wurde mir gesagt, ich sei doch kein richtiger Mann. Aber mit Argumenten versuche ich, die anderen zu überzeugen. Mein Familienle­ben ist deutlich besser geworden. Diese Fakten überzeugen manchmal“, erklärt der vierfache Vater. Und auf ein Faktum ist Onyango besonders stolz: Seine älteste Tochter ist die erste Frau in der gesamten Nachbarsch­aft, die auf die Uni geht, erzählt er und umarmt die 20-Jährige dabei. Wie es ein stolzer Vater eben macht.

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SCHAUNITZE­R In Kenia ein ungewöhnli­ches Familienbi­ld: Tom Onyango kümmert sich aktiv um seine Kinder

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