Die Lehren aus der Vergangenheit
Für einen europäischen Historiker ist es ein ganz besonderes Erlebnis, hier in diesem geschichtsträchtigen Krönungssaal zu sprechen, nur ein paar Meter entfernt von der Kirche, die Karl der Große vor mehr als 1200 Jahren errichten ließ. An diesem Ort fühlt man sich förmlich dazu gezwungen, in historischen Dimensionen zu denken. Politik und Geschichte haben unterschiedliche Zeitrechnungen. Nun lässt sich die europäische Geschichte über die Jahrhunderte deuten als fortwährendes Oszillieren zwischen Zeiten europäischer Ordnung, so hegemonial und ungerecht diese Ordnungen auch immer sein mochten, und Phasen üblicherweise gewaltsamer Unordnung. So gesehen ist unsere Epoche ziemlich exzeptionell.
Denn in den zweiundsiebzig Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir in Europa keinen großen zwischenstaatlichen Krieg mehr erlebt. Ich finde in den letzten zehn Jahrhunderten keinen vergleichbar langen Zeitraum ohne einen großen Krieg. Nun muss man natürlich sofort dazusagen, dass es in Europa seit 1945 ganz schreckliche Kriege gegeben hat, vom griechischen Bürgerkrieg über die blutigen Kriege im ehemaligen Jugoslawien bis zum bewaffneten Konflikt in der Ostukraine, der von Wladimir Putin weiter auf kleiner Flamme am Köcheln gehalten wird. Aber es gab keine großen Kriege. Das ist umso bemerkenswerter, als es in diesem Zeitraum zu einer tektonischen Verschiebung von einer Ordnung zu einer anderen kam: zum Ende des sowjetischen Imperiums und des Kalten Krieges in den Jahren 1989 bis 1991. In der Vergangenheit wäre ein solch grundstürzendes Ereignis mit einem Krieg einhergegangen. Nie zuvor waren so viele europäische Länder freiheitliche Demokratien, von denen sich die meisten in den gleichen politischen, wirtschaftlichen und sicherheitsspezifischen Gemeinschaften wiederfinden. Um Winston Churchills berühmte Bemerkung über die Demokratie aufzugreifen: Das ist das denkbar schlechteste Europa, abgesehen von allen anderen Europas, die zeitweilig ausprobiert
D wurden. er Historiker mag auf diese Zeitspanne von zweiundsiebzig Jahren blicken und sagen: „Nun ja, eine große Krise ist wahrhaft überfällig.“Und zweifellos verbinden sich die zahlreichen Krisen, mit denen verschiedene Teile Europas heute zu kämpfen haben, zu einer existenziellen Krise des gesamten europäischen Projekts, wie es sich seit 1945 entwickelt hat.
Ich tue meinen Job, wenn ich versuche, die Ursachen dieser existenziellen Krise auszumachen und auf die Schwachstellen hinzuweisen, die nationalistische Populisten ausnutzen. So übt beispielsweise ein direkt gewähltes Europaparlament tatsächlich beträchtliche demokratische Kontrolle über europäische Gesetze und politische Maßnahmen aus, doch die meisten Europäer haben nicht das Gefühl, dass sie in Brüssel direkt vertreten werden und ihre Stimme dort Gehör findet.
V iele europäische Gesellschaften haben große Schwierigkeiten damit, Ausmaß und Tempo der Zuwanderung zu akzeptieren, nicht zuletzt derjenigen, die durch den Abbau der Binnengrenzen in Europa bei gleichzeitiger unzureichender Sicherung der Außengrenzen des Schengenraums erleichtert wird. Ich hoffe, dass sich der Karlspreisträger von 2002 – der Euro – nicht beleidigt fühlt, wenn ich darauf hinweise, dass die Eurozone, die die europäische Einigung vorantreiben sollte, in den letzten Jahren schmerzliche Gräben zwischen Nord- und Südeuropa entstehen ließ. Das sind unbequeme Wahrheiten, aber ich glaube, der Geist des Alkuin von York würde mir beipflichten, dass es Aufgabe des Wissenschaftlers ist, sie auszusprechen.
Der Politiker dagegen muss immer von den aktuellen Gegebenheiten ausgehen, er muss stets auf seine Worte achten und ein Gefühl des „Yes, we can“– oder auf Deutsch „Wir schaffen das“– vermitteln. Der Intellektuelle muss die Wahrheit aussprechen, dass kein Imperium, kein Staatenbund und keine Gemeinschaft auf Erden je ewig währte, und das wird auch im Falle der Europäischen Union nicht anders sein. Der Politiker muss darauf hinarbeiten, dass unser beispielloses, freiwilliges, friedliches europäisches Imperium so lange wie menschenmöglich Bestand hat.
Doch wenn Sie wie ich ein spectateur engagé sind, können Sie durchaus einen Beitrag zu diesem politischen Unterfangen leisten, indem Sie schlicht die historische Wahrheit deutlich machen. Ich würde behaupten, dass der wichtigste Antriebsfaktor der europäischen Integration für drei Generationen nach 1945 individuelle, persönliche Erinnerungen an Krieg, Besatzung, Holocaust und Gulag, an Diktaturen, ob faschistische oder kommunistische, sowie an extreme Formen von Nationalismus, Diskriminierung und Armut waren. Nun haben wir zum ersten Mal eine ganze Generation von Europäern, die überwiegend seit 1989 ohne traumatische und prägende Erfahrungen dieser Art aufgewachsen sind. Sie kennen nur ein Europa, das weitgehend geeint
F und überwiegend frei ist. ast zwangsläufig neigen sie dazu, das für selbstverständlich zu halten; denn der Mensch neigt ganz allgemein dazu, das, womit er aufgewachsen ist und was er um sich herum wahrnimmt, als normal, ja natürlich zu betrachten. Czesław Miłosz beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch „Verführtes Denken“. Er vergleicht uns darin mit Charlie Chaplin in dem Film „Goldrausch“, wo dieser vergnügt in einer Holzhütte herumwuselt, die bedrohlich über einem Abgrund hängt.
Ich hoffe, wir sind noch nicht so weit, aber wir müssen dieser Generation irgendwie vermitteln, dass das, was sie heute als normal betrachtet, historisch gesehen tatsächlich zutiefst abnormal ist – außergewöhnlich, außerordentlich. In seiner Dankrede erwähnte Papst Franziskus im vergangenen Jahr Elie Wiesels Forderung nach einer „Erinnerungstransfusion“an jüngere Europäer. Genau darum geht es. Natürlich lässt sich nichts mit der Wirkung unmittelbarer, persönlicher Erfahrung vergleichen. Doch die Beschäftigung mit der Geschichte hat unter anderem den Zweck, von den Erfahrungen anderer Menschen zu lernen, ohne sie selbst durchmachen zu müssen. Zu den ermutigenden Zeichen der letzten Monate gehört eine neue Mobilisierung bei dieser Nach-89er-Generation von Europäern, die zeigt, dass ihr Puls
E für Europa schneller schlägt. ine weitere, allgemeinere Lehre aus der Geschichte ist: Was ursprünglich Mittel zum Zweck war, kann mit der Zeit zum Selbstzweck werden. All die europäischen Institutionen, die wir geschaffen haben, sind Mittel für einen höheren Zweck, nicht Selbstzweck. Wir sollten uns stets fragen: Erfüllt diese Institution oder jenes Instrument noch ihren oder seinen Zweck, ist sie oder es das am besten für diesen Zweck geeignete?
Es bringt nichts, einfach immer nur „mehr Europa, mehr Europa“zu fordern. Die richtige Antwort wird oftmals sein, dass wir von diesem mehr, von jenem aber weniger brauchen. Nur eine Organisation, die in der Lage ist, Macht sowohl nach unten wie nach oben umzuverteilen, je nach wechselnden Bedürfnissen, wird von ihren Bürgern als lebendig und responsiv betrachtet werden.
Und schließlich ist da der Gegensatz, der die europäische Geschichte am stärksten charakterisiert – der von Einheit und Vielfalt. Hier in Aachen denken wir unvermeidlich an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das europäische Imperium, das am längsten Bestand hatte. Wie der Historiker Peter Wilson zeigt, hatte das vor allem einen Grund: Man hatte das Gefühl, dass seine übergreifenden Strukturen die enorme Vielfalt an politischen, kirchlichen und rechtlichen Gemeinschaften, die unter seiner Ägide versammelt waren, nicht übermäßig zu zentralisieren und zu homogenisieren drohten, sondern sie im Gegenteil sicherten und schützten.