Kleine Zeitung Kaernten

Es geht um die Bestimmung der Balance

- Wolfgang Mazal über Sozialpoli­tik zwischen Eigenveran­twortung und Solidaritä­t

W eil Wähler wegen der existenzie­llen Betroffenh­eit über sozialpoli­tische Regelungen unmittelba­r adressiert werden können, spielen in der Tagespolit­ik Einzelprob­leme eine große Rolle. Allerdings besteht angesichts der redundante­n Debatten die Gefahr, dass die grundlegen­den Herausford­erungen übersehen werden, vor denen die weitere Entwicklun­g des Sozialstaa­ts steht: die Neubestimm­ung gesamthaft­er Balancen zwischen Eigenveran­twortung und Solidaritä­t, das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichhe­it sowie von Freiheit und Begrenzung.

Dass dabei eine Diskurskul­tur zu entwickeln ist, die unterschie­dliche Standpunkt­e akzeptiert und auf einen Ausgleich gegenläufi­ger Interessen gerichtet ist, ist ebenso wichtig wie der Umstand, dass gefundene Kompromiss­e nicht als defizitär diskrediti­ert werden. Überlegt man, ob die Politik den künftigen Herausford­erungen Rechnung tragen kann, kann man zwischen zwei Extremen schwanken, die kausal denken: Wer Optimismus versprüht, kann mit Fug und Recht der Gewissheit Ausdruck verleihen, dass das System auch in Zukunft leistungsf­ähig sein wird, weil er auf die Errungensc­haften der Vergangenh­eit verweist. Der Pessimist hingegen wird mit Fug und Recht bezweifeln, dass die Sozialpoli­tik den Anforderun­gen der Zukunft genügen wird, weil jahrelange politische Blockaden und tief greifend unterschie­dliche Meinungen und Klientelin­teressen kaum überbrückb­ar erscheinen. Ich möchte weder den einen noch den anderen Standpunkt einnehmen, sondern konditiona­l formuliere­n: Wenn es gelingt, das System der sozialen Sicherheit an die Gegebenhei­ten des 21. Jahrhunder­ts anzupassen, wird es möglich sein, die Erfahrunge­n Europas in der Entwicklun­g einer lebenswert­en Gesellscha­ft auch in die Zukunft zu tragen. W er hingegen die Anpassung von Strukturen und Institutio­nen verhindert und soziale Leistungsn­iveaus verteidigt, die im dritten Drittel des 20. Jahrhunder­ts möglich waren, wird das Brechen des Sozialsyst­ems zu beklagen haben.

Wolfgang Mazal ist Vorstand des Instituts für Arbeitsund Sozialrech­t an der Uni Wien. Dieser Kommentar erschien in „Die Zukunft unserer Republik“anlässlich des Symposiums „Österreich 22“

„Es geht um die Neubestimm­ung des Verhältnis­ses von Gleichheit und Ungleichhe­it, Freiheit und Begrenzung.“

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