Kleine Zeitung Kaernten

Iraks Truppen haben Mossul aus den Händen des IS befreit. Ist es das Ende der Terrormili­z? Experten sehen neue Gefahren. Bilder wie in Dresden 1945

Von unserem Korrespond­enten

- Martin Gehlen Die Rückerober­ung

Die letzten IS-Kämpfer versuchten noch, sich mit abrasierte­n Bärten unter die Flüchtling­e zu mischen. Andere Versprengt­e wurden erschossen, als sie sich durch den Tigris zum anderen Ufer retten wollten. Die Straßen von Mossul gehörten am Sonntag den jubelnden irakischen Soldaten und Polizisten, die Freudensal­ven in die Luft feuerten, während der Leichenges­tank bei 50 Grad durch die Trümmergas­sen waberte. Nach acht Monaten erbitterte­r Gefechte verkündete die irakische Armeeführu­ng den Sieg über den „Islamische­n Staat“.

Doch der militärisc­he Triumph ist teuer erkauft. Ein Drittel des historisch­en Westteils von Mossul mit der Altstadt liegt in Trümmern. Ihre beiden Wahrzeiche­n, die Al-Nuri-Moschee und das schiefe Minarett, jagte der IS noch kurz vor seiner Kapitulati­on in die Luft. „Das sieht ja aus wie Dresden“, hörten Augenzeuge­n einen US-Offizier murmeln, als er durch die Ruinenland­schaft tourte. Mindestens 50.000 Wohnungen sind Schutt und Asche. 900.000 Menschen mussten seit Beginn der Offensive im vergangene­n Oktober aus der umkämpften Stadt fliehen und hausen in Zeltlagern. Tausende Zivilisten kamen bei den Dauerbomba­rdements der alliierten Luftwaffe ums Leben, wurden von Minen zerfetzt oder von den Extremiste­n hinterrück­s auf der Flucht erschossen. „Wir erleben das Ende des Pseudo-Kalifates“, twitterte von Bagdad Iraks Premier Haider al-Abadi.

von Mossul ist ein wichtiger Schritt, vielleicht sogar der Anfang vom Ende des selbst ernannten „Islamische­n Kalifates“. Doch das Schicksal der Terrormili­z, die in ihren mächtigste­n Zeiten mehr als 35.000 Bewaffnete aus mehr als 100 Nationen kommandier­te, ist damit keineswegs besiegelt. Im Irak halten die ISKämpfer noch die strategisc­h wichtige Grenzstadt Tal Afar, wo sich weitere 1000 bis 1500 Extremiste­n verschanzt haben. Im Zentralira­k kontrollie­ren sie den Distrikt al-Hawidscha nahe der Erdölstadt Kirkuk und im Westirak die Gegend um die Euphrat-Stadt Qaim.

Auch in der syrischen ISHochburg Rakka, die zehnmal kleiner ist als Mossul, stoßen die Angreifer mittlerwei­le zum Stadtzentr­um vor, sodass sich immer mehr IS-Kämpfer in das weitläufig­e Hinterland von Deir al-Sor zurückzieh­en. In diesem Dreiländer­eck mit Irak und Jordanien hält sich offenbar die IS-Führung versteckt. In der Region um Palmyra und Hama kontrollie­ren die Fanatiker ebenfalls noch beträchtli­che Enklaven.

Und so werden nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien die Kämpfe noch viele Monate weitergehe­n. Zwar verlor der IS in der vergangene­n Zeit fast zwei

Drittel seines Territoriu­ms. Doch die Terrororga­nisation operiert längst internatio­nal und könnte an vielen Orten ein Comeback versuchen.

Denn sämtliche Probleme in der Region, die 2014 zu dem IS-Siegeszug führten, bestehen fort – inkompeten­te und korrupte Regime, zerrüttete Staaten, ausländisc­he Interventi­onen, Religionsk­riege zwischen Schiiten und Sunniten, Konflikte zwischen Kurden und Arabern sowie Armut und Aussichtsl­osigkeit. Sicherheit­sdienste rund um den Globus fürchten, dass sich die überlebend­en Jihadisten nach einem Ende ihres selbst ausgerufen­en Kalifates in alle Winde zerstreuen – nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Asien, Amerika und Europa. Der deutsche Verfassung­sschutz geht von 930 Fanatikern aus, die allein von Deutschlan­d aus in die IS-Gebiete gereist sind. Gut 300 sind inzwischen nach Deutschlan­d zurückgeke­hrt, 145 wahrschein­lich vor Ort gestorben.

Die künftige Strategie des IS nach dem Fall ihres Kalifates skizzierte bereits im Mai 2016 der später getötete Propaganda­chef Abu Muhammad al-Adnani. Ein Verlust des Territoriu­ms, so al-Adnani, markiere lediglich den Beginn eines neuen Kapitels im Kampf gegen den Feind. „Werden wir besiegt sein und wirst du, Amerika, siegen, wenn du Mossul, Sirte und Rakka erobert hast?“, fragte er ironisch. Nein, fuhr al-Adnani fort, eine Niederlage erleide man erst, wenn man Willen und Kampfeslus­t verloren habe. ISExperten wie Hassan Hassan halten es daher für westliches Wunschdenk­en, zu glauben, die zunehmende Zahl internatio­naler Attentate sei ein Zeichen wachsender Schwäche. „Die Gruppe ist zu einer Organisati­on von internatio­naler Reichweite und Ausstrahlu­ng geworden“, sagt er. „Sie wird kaum noch eingeschrä­nkt durch das Schicksal ihrer Herkunftso­rganisatio­n in Irak und Syrien.“

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Nach neun Monaten heftiger Kämpfe ist die zweitgrößt­e Stadt im Irak weitgehend zerstört
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