Als sich Erdog˘ an das Recht holte
Heute vor einem Jahr scheiterte der Putsch in der Türkei. Es folgte eine Welle von Verhaftungen und Entlassungen, ein Viertel der Justiz wurde ausgeschaltet.
Wenn die Muezzins aller 90.000 Moscheen der Türkei an diesem Samstagabend das islamische Totengebet Sala für die Opfer des gescheiterten Militärputsches vor einem Jahr anstimmen, dann werden drei Frauen in Istanbul den Klagegesang kaum ertragen können. Ay¸se, Hatice und Dilek werden traurig an jenen 15. Juli 2016 denken, der nicht nur das Land tief erschütterte, sondern auch ihr Leben. „Unsere Ehemänner sind nicht tot“, sagt Ay¸se, „aber es ist, als seien sie seit dem Putschversuch lebendig begraben. Meine Kinder weinen, wenn sie an ihren Vater denken, der völlig unschuldig im Gefängnis sitzt.“
Vor acht Monaten nahmen die Frauen Kontakt zur Kleinen Zeitung auf, weil sie Hilfe suchten. Türkische Medien schreiben fast nie über inhaftierte Richter und Staatsanwälte, weil diese keine Lobby haben. „Wie uns geht es Tausenden in der Türkei“, sagt Ay¸se. „Wir wollen unsere Stimme für die erheben, die dasselbe durchmachen wie wir. Denn wo ist die Gerechtigkeit in unserem Land?“Das Schicksal hat Ay¸se, Hatice und Dilek zusammengeführt, drei Mütter aus Istanbul zwischen 30 und 40 Jahren, die sich jede Woche beim Besuchstag im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri westlich der Metropole treffen, wo ihre Männer inhaftiert sind. Männer, die noch vor einem Jahr angesehene Staatsdiener waren und denen der Staat nun vorwirft, am Putschversuch beteiligt gewesen zu sein, für den der Staatspräsident Recep Tayyip Erdog˘an die „Fethullaistische Terrororganisation“(Fetö) des Islampredigers Fethullah Gülen verantwortlich macht.
Am Morgen des 16. Juli, während loyale Truppen noch Aufständische niederkämpften, verschickte der oberste Hohe Justizrat (HSYK) bereits eine Liste mit den Namen von 2745 Richtern und Staatsanwälten, die suspendiert oder verhaftet werden sollten, weil sie verdächtig seien, den Fetö-Putschisten anzugehören. Die Polizei begann mit den Festnahmen. Bis heute wurden 4424 Richter und Staatsanwälte suspendiert, 2584 inhaftiert, 680 sind in Einzelhaft. Ein Viertel der staatlichen Justiz wurde ausgeschaltet. „Es gibt keine Rechtssicherheit mehr in unserem Land“, sagt Dilek.
Die Frauen freuen sich über den kürzlich beendeten „Marsch für Gerechtigkeit“des Oppositionsführers Kemal Kiliçdarog˘lu, dem zum Schluss Millionen Menschen folgten. Dilek sagt: „Das Recht wird wiederkommen. Auf Dauer kann Unrecht nicht siegen.“