Kleine Zeitung Kaernten

Als sich Erdog˘ an das Recht holte

Heute vor einem Jahr scheiterte der Putsch in der Türkei. Es folgte eine Welle von Verhaftung­en und Entlassung­en, ein Viertel der Justiz wurde ausgeschal­tet.

- Von Frank Nordhausen

Wenn die Muezzins aller 90.000 Moscheen der Türkei an diesem Samstagabe­nd das islamische Totengebet Sala für die Opfer des gescheiter­ten Militärput­sches vor einem Jahr anstimmen, dann werden drei Frauen in Istanbul den Klagegesan­g kaum ertragen können. Ay¸se, Hatice und Dilek werden traurig an jenen 15. Juli 2016 denken, der nicht nur das Land tief erschütter­te, sondern auch ihr Leben. „Unsere Ehemänner sind nicht tot“, sagt Ay¸se, „aber es ist, als seien sie seit dem Putschvers­uch lebendig begraben. Meine Kinder weinen, wenn sie an ihren Vater denken, der völlig unschuldig im Gefängnis sitzt.“

Vor acht Monaten nahmen die Frauen Kontakt zur Kleinen Zeitung auf, weil sie Hilfe suchten. Türkische Medien schreiben fast nie über inhaftiert­e Richter und Staatsanwä­lte, weil diese keine Lobby haben. „Wie uns geht es Tausenden in der Türkei“, sagt Ay¸se. „Wir wollen unsere Stimme für die erheben, die dasselbe durchmache­n wie wir. Denn wo ist die Gerechtigk­eit in unserem Land?“Das Schicksal hat Ay¸se, Hatice und Dilek zusammenge­führt, drei Mütter aus Istanbul zwischen 30 und 40 Jahren, die sich jede Woche beim Besuchstag im Hochsicher­heitsgefän­gnis von Silivri westlich der Metropole treffen, wo ihre Männer inhaftiert sind. Männer, die noch vor einem Jahr angesehene Staatsdien­er waren und denen der Staat nun vorwirft, am Putschvers­uch beteiligt gewesen zu sein, für den der Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdog˘an die „Fethullais­tische Terrororga­nisation“(Fetö) des Islampredi­gers Fethullah Gülen verantwort­lich macht.

Am Morgen des 16. Juli, während loyale Truppen noch Aufständis­che niederkämp­ften, verschickt­e der oberste Hohe Justizrat (HSYK) bereits eine Liste mit den Namen von 2745 Richtern und Staatsanwä­lten, die suspendier­t oder verhaftet werden sollten, weil sie verdächtig seien, den Fetö-Putschiste­n anzugehöre­n. Die Polizei begann mit den Festnahmen. Bis heute wurden 4424 Richter und Staatsanwä­lte suspendier­t, 2584 inhaftiert, 680 sind in Einzelhaft. Ein Viertel der staatliche­n Justiz wurde ausgeschal­tet. „Es gibt keine Rechtssich­erheit mehr in unserem Land“, sagt Dilek.

Die Frauen freuen sich über den kürzlich beendeten „Marsch für Gerechtigk­eit“des Opposition­sführers Kemal Kiliçdarog˘lu, dem zum Schluss Millionen Menschen folgten. Dilek sagt: „Das Recht wird wiederkomm­en. Auf Dauer kann Unrecht nicht siegen.“

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