Kleine Zeitung Kaernten

Abschied von Europa

Erdog˘ an hat die Türkei ins Aus manövriert. Beitrittsv­erhandlung­en sind sinnlos. Die Europäer haben längst keinen Einfluss mehr auf die Entwicklun­g in Ankara.

- Gerd Höhler

Er sollte entmachtet, wahrschein­lich sogar ermordet werden. Aber ein Jahr nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch in der Türkei ist Staatschef Recep Tayyip Erdog˘an mächtiger denn je. Unter dem Ausnahmezu­stand, den er vor einem Jahr verhängte, kann er schon jetzt per Dekret am Parlament vorbeiregi­eren. Mit der bevorstehe­nden Einführung des Präsidials­ystems wird die Machtfülle des Staatschef­s noch einmal erweitert. Die Parlamenta­rier sind dann nur noch Statisten, die Gewaltente­ilung wird ausgehebel­t.

Für Erdog˘an ist das ein Triumph, für die Türkei ist es eine Tragödie. Seit dem legendären Staatsgrün­der Atatürk hat kein Politiker das Land so stark geprägt wie Erdog˘an in den vergangene­n 15 Jahren. Aber während Atatürk die Türkei aus den Fesseln des Islam zu befreien und nach Westen zu öffnen versuchte, führt Erdog˘an sein Land weg von Europa. Für die demokratis­chen Werte, die das Fundament der EU bilden, hat der türkische Präsident nur Hohn und Verachtung übrig. Das zeigen die Razzien, Massenverh­aftungen und Entlassung­en, mit denen er seine Kritiker verfolgt, das zeigt seine Kumpanei mit radikalen Islamisten wie der Hamas und der Muslimbrud­erschaft, und das zeigt nicht zuletzt der Fall des inhaftiert­en „Welt“-Korrespond­enten Deniz Yücel: Solange er Präsident sei, werde Yücel niemals entlassen, verkündet Erdog˘an. In der Türkei entscheide­n also nicht mehr Gerichte über Haft oder Freiheit, sondern der allmächtig­e Staatschef. So ist das nun einmal in autoritäre­n Staaten.

Was Erdog˘an übersieht: Er setzt damit die wirtschaft­liche Zukunft seines Landes aufs Spiel und untergräbt so seine eigene Macht. Denn Rechtssich­erheit ist für Investoren ein hohes Gut. Darauf verweist auch der Bundesverb­and der Deutschen Industrie. Er nennt die Entwicklun­g in der Türkei „besorgnise­rregend“. Vor allem die europäisch­e Perspektiv­e des Landes bewog im vergangene­n Jahrzehnt viele ausländisc­he Unternehme­n, in der Türkei zu investiere­n. Diese Geschäftsg­rundlage bricht jetzt weg.

Natürlich hat die Türkei das Recht, politisch ihren eigenen Weg zu gehen. Einen Anspruch, in die europäisch­e Familie aufgenomme­n zu werden, hat sie aber in ihrem gegenwärti­gen Zustand nicht mehr. Dem stehen schon die Kopenhagen­er Kriterien entgegen, die von einem Beitrittsk­andidaten die Wahrung der Menschenre­chte und eine demokratis­che, rechtsstaa­tliche Ordnung verlangen. Die EU-Staats- und Regierungs­chefs sollten deshalb dem Votum des Europäisch­en Parlaments folgen und die Beitrittsv­erhandlung­en abbrechen. Auch Gespräche über eine Erweiterun­g der Zollunion, wie sie die Türkei wünscht, ergeben keinen Sinn mehr. as Argument, mit einem Abbruch der Beitrittsg­espräche nehme die EU den Reformdruc­k von der Regierung in Ankara, überzeugt nicht. Ohnehin haben die Europäer so gut wie keinen Einfluss mehr auf die Entwicklun­g in der Türkei. Das demonstrie­rt Erdog˘an jeden Tag.

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