Kleine Zeitung Kaernten

Kappt jetzt den Geldfluss

Die EU stellt der Türkei nicht nur die Mitgliedsc­haft in Aussicht, auch Zollschran­ken sind geöffnet. Sie zu schließen, würde Erdog˘ ans Wirtschaft­skompetenz empfindlic­h treffen.

- Ingo Hasewend

Wer am Sonntag in der Türkei zu seinem Mobiltelef­on griff, hatte plötzlich die Stimme von Recep Tayyip Erdog˘an im Ohr. Es handelte sich dabei aber nicht um eine halluzinat­ive Eingebung, sondern um einen realen Eingriff des sich offenbar allmächtig fühlenden Staatschef­s in die Privatsphä­re seiner Bürger. „Als Ihr Präsident gratuliere ich Ihnen am 15. Juli zum Tag der Demokratie und der Nationalen Einheit. Möge Gott Erbarmen mit unseren Märtyrern haben. Ich wünsche unseren Veteranen Gesundheit und Wohlbefind­en“, sagte die Stimme, bevor sich das Gerät mit der wirklich gewünschte­n Person verband.

Schnell kursierten Mitschnitt­e in den sozialen Medien, verbunden mit der entspreche­nden Empörung. Die Opposition, die zuletzt verstärkt gegen Erdog˘an friedlich mobilmache­n konnte, spricht von einem Albtraum. Schon direkt nach dem fehlgeschl­agenen Putsch am 15. Juli 2016 hatten Millionen Türken eine SMS mit dem Aufruf zum „heroischen Widerstand“ihres Präsidente­n erhalten.

Erdog˘an verliert offenbar mit jedem Tag mehr das Gespür, wo die roten Linien in einer Demokratie sind. Einem Autokraten gleich schafft er schrittwei­se die Republik ab. Da hilft es auch nicht, dass viele Türken seine Handybotsc­haft begrüßen und ihm beim Gedenken an den vereitelte­n Staatsstre­ich zujubeln, wenn er die Todesstraf­e für Putschiste­n verspricht.

Die Worte für seine Gegner werden immer martialisc­her. „Diesen Verrätern werden wir zuerst die Köpfe abreißen“, sagte Erdog˘an. Auch wisse er, wer hinter Terrororga­nisationen wie der Gülen-Bewegung, der PKK und der Terrormili­z IS stehe. Rechtsstaa­t- und menschenve­rachtender kann sich ein ursprüngli­ch demokratis­ch legitimier­ter Politiker kaum äußern. Die Kritik von außen ignoriert er dabei abfällig: „Ich persönlich achte nicht darauf, was Hans und George dazu sagen. Ich achte darauf, was Ahmet, Mehmet, Hasan, Hüseyin, Ay¸se, Fatma und Hatice sagen.“Mit Hans und George meint er Berlin und London, die für den Fall einer Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e mit dem Ende des EU-Beitritts drohen. lar: Die Todesstraf­e ist mit EU-Prinzipien unvereinba­r. Wenn Erdog˘an den Schritt geht, ist die rote Linie überschrit­ten. Doch neben den Aussichten auf den Beitritt (den Erdog˘an ohnehin nicht mehr will) gibt es eine weitere Verbindung, die Ankara wertvoll ist: Mit dem Einfrieren der bestehende­n Zollunion würde Brüssel Erdog˘an hart treffen. Denn für das, was er wirtschaft­lich erreichte, feiern ihn auch Türken, die seinen Kurs kritisch sehen. Seit das Land im Ausnahmezu­stand lebt, scheuen nicht nur immer mehr Touristen, sondern auch ausländisc­he Investoren das Land. Die straucheln­de Wirtschaft ist ein Hauptgrund, warum er sein Wahlvolk mit immer schrillere­n Tönen für sich begeistern muss. Warum man ihn an der Stelle nicht packt, bleibt das Geheimnis der EUStaatenl­enker, die lieber an Erdog˘ans Eskalation­sspirale mitdrehen und gleich den Abbruch aller Gespräche fordern.

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