„Ein Blick von außen tut jedem Land gut“
Warum Österreich schon immer unter Beobachtung stand: Zum eigenen 75er und zum 100er der Republik stellt sich der Historiker Manfried Rauchensteiner mit einem neuen Buch ein.
Als Chronist Österreichs schrieben Sie das Standardwerk über den Ersten Weltkrieg und den Zerfall der Monarchie 1918, Sie publizierten über die Besatzungszeit nach 1945. In wenigen Tagen feiern Sie Ihren 75. Geburtstag. Was blieb aus dem eigenen Erleben von Zeitgeschichte besonders in Erinnerung?
MANFRIED RAUCHENSTEINER:
Meine erste Erinnerung ist die an einen Luftangriff auf Klagenfurt. Die nächste Wahrnehmung galt Soldaten, die ich später als britische erläutert bekommen habe, die mich aufforderten, ein Liedchen zu singen, wie es ein Dreijähriger eben kann. Dafür erhielt ich ein Stückchen Schokolade, die erste meines Lebens übrigens. Wesentlich stärker blieb der Eindruck an die Staatsvertragsunterzeichnung erhalten, nicht weil ich von dem Geschehen in Wien unmittelbar etwas mitbekommen hätte, aber wir hatten eine Feier am Schulhof des Gymnasiums in Villach, der Festredner, unser Geschichteund Geografieprofessor, erlitt dabei einen Schlaganfall, an dem er starb. Daher wurde der Staatsvertrag doch zu einem persönlichen Ereignis, ohne dass es etwas mit dem Vertrag zu tun hatte.
Die meisten Menschen hatten in der Nachkriegszeit genug von Geschichte und wollten über die jüngere Vergangenheit Österreichs lieber den Mantel des Vergessens breiten. Was treibt da einen jungen Menschen dazu, Geschichte zu studieren?
Bis zur Matura im Jahr 1960 hatte ich von den politischen Vorgängen nicht wirklich viel erfahren, nicht dass ich nicht interessiert gewesen wäre, aber es war damals auch der Alltag eines Kindes, eines Jugendlichen, alles Mögliche war wichtiger. Aber Politik, das waren Dinge, die irgendwo im fernen Wien passierten. Ich war neugierig, das war der Grund, warum ich nach meinem Militärdienst als einjährig Freiwilliger begonnen habe, Geschichte zu studieren. Es war die Neugierde, um festzustellen, was ist da wirklich geschehen.
Nachdem Sie nun festgestellt haben, was in der Vergangenheit geschehen ist, wie würden Sie eine Skala der Ereignisse in der Geschichte der Republik Österreichs erstellen?
Das Jahr 1938, in dem Österreich zu einem Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reiches wurde, erlebte ich selbst nicht, im Jahr 1945, in dem Österreich wieder zum eigenen Staat wurde, war ich ein Kleinkind. Beide Daten stellen eine Zäsur dar, aber nur die des Jahres 1945 war eine zukunftsfähige. Natürlich zählen das Ende der Großen Nachkriegskoalitionsregierungen 1966 und der Beginn der Alleinregierungen zu den wichtigen Abschnitten der Republik, doch besonders hervorzuheben ist das Jahr 1989, der Zerfall des einstigen Ostblocks. Da zeigte sich, wie stark wir durch Vorgänge, die nicht im eigenen Land ihren Ursprung hatten, geprägt worden sind.
Wurden wir dadurch geprägt oder waren wir bloß wirtschaftliche Profiteure durch den Fall des Eisernen Vorhangs an unseren Grenzen?
Es war mehr, es war ein Umbruch, der ganz Europa von Grund auf veränderte. Die alte, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geltende Ordnung war beendet, was von den Alliierten in Jalta vereinbart worden war, galt nicht mehr. Nichts blieb in Europa mehr gleich.
Und wie bewerten Sie die Rolle, die Österreich bei diesen Umwälzungen spielte?
Im Großen und Ganzen vollzog Österreich einfach das nach, was passierte. Wir übernahmen Flüchtlinge aus der DDR, gaben da und dort Hilfestellungen, allerdings verwob man starke wirtschaftliche Interessen hinein, die uns nicht wahnsinnig
Sympathien einbrachten. Länder, die bis 1918 mit der Habsburgermonarchie verbunden waren und die sich nun von Österreich eine stärkere politische Rolle erwartet hätten, wurden enttäuscht, weil sich Wien aus angeblich sicherheitspolitischen Gründen herausnahm. Wir glaubten, dass unsere Neutralität der große Exportschlager werde. Die Tschechei oder Polen orientierten sich dann jedoch lieber an Berlin und der Nato.
Im Herbst erscheint anlässlich des im nächsten Jahr anstehenden Jubiläums „100 Jahre Republik Österreich“Ihr neues Buch, dessen Titel „Unter Beobachtung“heißen wird. Was darf man sich von diesem Buch erwarten?
Mit der Arbeit daran begann ich schon früh, ließ es aber dann ruhen, weil das Buch über den Ersten Weltkrieg wichtiger geworden war. Vor drei Jahren griff ich das Projekt wieder auf. Wie schauten andere Länder auf Österreich, darum geht es. Schon seit 1918 stand unser Land unter ständiger internationaler Beobachtung, man fragte sich damals, ob Österreich zusammenbleiben würde oder die Auflösungskräfte stärker sein würden. Schließlich glaubte das Ausland 1938, nach dem Anschluss an Deutschland, dass Österreich ohnehin verzichtbar sei. Die Alliierten gestanden Jahre später ihren Irrtum in der Moskauer Deklaration ein, in deren erstem Absatz die Wiederherstellung Österreichs festgelegt wurde. Wir stehen aber weiter unter Beobachtung, das war in der Angelegenheit Waldheim so, das war 2000 bei der Koalitionsbildung von ÖVP und FPÖ so und zuviel letzt erlebten wir es bei der Bundespräsidentenwahl. Der damalige tschechische Außenminister Karl Schwarzenberg sagte im Vorjahr in einem Interview, wenn es zur Wahl von Norbert Hofer komme, dann stehe Österreich unter Beobachtung.
Kann es sein, dass uns die europäischen Nachbarn deshalb stärker beobachten, weil die Österreicher in der Selbstbeobachtung die Unschärfe vorziehen und Selbstkritik gerne meiden?
Ganz so würde ich es nicht sehen, die Selbstkritik erfolgt hin und wieder auf unterschiedlichste Art, einmal sehr liebenswürdig, dann etwas gröblicher. Es kommt immer auf die eigene Einstellung an. Aber der Blick von außen tut jedem Land gut, damit man nicht im eigenen Saft schmort und sich auch bewusst bleibt, dass man in einem großen europäischen Verbund lebt und einem die Meinung der anderen nicht gleichgültig sein darf.
Derzeit dürfen wir eher den Eindruck gewinnen, dass in vielen Ländern die Meinung von außen als lästige Einmischung empfunden wird und der Nationalismus zurückkehrt ...
Ja, das kann zu denken geben. Gerade wir Österreicher mussten die Sprengkraft des Nationalismus erfahren, der schon 1918 Österreich-Ungarn zerriss.
Kann es sein, dass vor allem junge Leute nicht mehr wissen, in welche Katastrophe brutaler Nationalismus Europa und die Welt stürzte? Lässt in Österreich das historische Gedächtnis nach?
Es ist sicher so, dass die historischen Grundkenntnisse verbesserungsbedürftig wären. Das Interesse dürfte bei vielen Menschen vorhanden sein, glaube ich.
Haben Sie als erfahrener Historiker einen Rat vor allem für Jugendliche in der heutigen Zeit?
Mitgestalten. Das kann in vielfacher Weise passieren, man muss ja nicht gleich ministrabel sein, was auch schon vorgekommen sein soll. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die Menschen das Interesse an Politik verlieren und sich nicht mehr gefordert sehen.